Behandlungs-Zimmer ohne Aussicht?
Für die Behandlungstechnik ist nach dem Einfluss der realen Person des Psychoanalytikers auf den analytischen Prozess zu fragen. Im Zentrum dieses Buches steht daher das neue Paradigma in der Behandlungstechnik: die Relationale
Psychoanalyse oder Intersubjektivität.
Im Zentrum dieses Buches steht daher das neue Paradigma in der Behandlungstechnik:
die Relationale Psychoanalyse oder Intersubjektivität.
Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung behandelt ein weiterer Schwerpunkt die spannende Frage der Auswirkungen »äußerer« politischer Systeme auf »innere« psychische Prozesse und Strukturen im Individuum.
Der Band enthält Beiträge führender deutscher und internationaler Psychoanalytiker.
ZIELGRUPPE:
- Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker
Inhaltsverzeichnis
Vorwort. 9
PETER DIEDERICHS Einführung 13
1 Psychoanalytische Erkundungen zur äußeren und inneren Realität
FRANZ WELLENDORF Überlegungen zur inneren und äußeren Realität 23
H. SHMUEL ERLICH The View from Within the Box, Living Out of the Box – Psychoanalyse zwischen innerer und äußerer Realität 28
BRUNI KREUTZER-BOHN »Wie zu mir finden, wenn ich so außer mir bin.« 39
KLAUS GRABSKA Vom Alptraum zum Träumerischen – Über psychische Transformationen 51
FRANK BLOHM Das Ausfallhonorar, die soziale Relation und der analytische Prozess 62
WULF-VOLKER LINDNER Inside Out – Innere und äußere Realität im therapeutischen, kreativen und rezeptiven Prozess 71
2 Lebensrealität und Übertragung – Innen und Außen im analytischen Prozess
EMANUEL BERMAN Zur Analyse von Objektbeziehungen in der analytischen Dyade und im äußeren Leben des Patienten 83
WULF HÜBNER
Kommentar zum Beitrag von Emanuel Berman 101
WULF HÜBNER
Analytische Geschenke und anderes – Wie aktiv dürfen wir sein? 109
DIANA PFLICHTHOFER
(Un)mögliche Begegnungen – Unsere Angst, aus dem Rahmen zu fallen 126
Diskussion: Intersubjektivität. Gibt es ein neues Paradigma in der Behandlungstechnik?
MARTIN ALTMEYER
Die zeitgenössische Psychoanalyse zwischen Fundamentalismus und Moderne 145
INGO FOCKE
Intersubjektivität als neues Paradigma? 162
ANDRZEJ WERBART
Intersubjektivität und therapeutische Technik – Was ist neu und was alt? 171
LÉON WURMSER
Übertragungsdeutungen gegenüber Deutungen außerhalb der Übertragung 182
3 Subjektives Erleben und objektive Erkenntnis – Erträge empirischer Forschung
MICHAEL B. BUCHHOLZ
Das Unbewusste an der Oberfläche – Seelische Innenwelt und Konversation 195
HARALD GÜNDEL
Auf dem Weg zur Bewältigung eines tiefen inneren Verlustes – Können sich neurobiologische und psychoanalytische Befunde ergänzen? 217
WERNER KÖPP
Kommentar zum Beitrag von Harald Gündel 230
AGATHE ISRAEL
Das Dritte in der inneren und äußeren Welt des Kindes, dargestellt am Beispiel einer Säuglings-Eltern-Psychotherapie 239
4 Das historische Erbe und die Schwierigkeiten seiner Erinnerung – Psychoanalyse in Deutschland heute
MARION M. OLINER
Drehen Sie sich nicht um, Frau Lot 261
CHRISTIAN SCHNEIDER
Kommentar zum Beitrag von Marion M. Oliner 276
ELKE HORN
Momente der Berührung und ihre Zerstörung – Täter- und Opfer-Introjekte bei der Tochter einer überzeugten Nationalsozialistin 283
LUDWIG DREES
»Ich bin nicht besser als meine Väter …« Regression und Gegenübertragung des Analytikers nach zwei totalitären Systemen – Spurensuche 295
MICHAEL FROESE
»Dieser Patient hat keine Analyse verdient!« DDR-Geschichte im Behandlungszimmer 316
BERTRAM VON DER STEIN
Young lady go west! Äußere und innere Realitäten zweier in der DDR geborener Frauen in Westdeutschland im Spiegel mehrjähriger Psychoanalysen 331
CATHERINE SCHMIDT-LÖW-BEER
Das Land im Kopf – Jugendliche in »Ost« und »West« 340
MATTIAS KAYSER UND BIRGIT HOMUTH
DPG und IPV, DDR und BRD – Übergangsphänomene einer »Wiedervereinigung« 348
Die Autorinnen und Autoren 359
Leseprobe
Vorwort
Es ist die bleibende und auch heute noch nicht ausgeschöpfte Leistung Sigmund Freuds, gezeigt zu haben, dass der inneren Realität von zum Teil bewussten, zum großen Teil aber auch unbewussten Phantasien, Gefühlen und Gedanken die gleiche Bedeutung und Tragweite für das menschliche Schicksal beschieden ist wie der äußeren Realität der facta bruta. Diese äußere Realität ist uns ohnehin nicht unmittelbar zugänglich, sondern nur über die Vorstellungen, die wir von ihr herausbilden. Unser auf das Innere bezogene Selbstbild und unser nach außen gerichtetes Weltbild stehen in vielschichtigen und komplexen Relationen zueinander, die ebenfalls nur zum Teil bewusst sind. Wie bei Spiegelbildern oder kommunizierenden Röhren bestehen Symmetrien, Komplementaritäten und andere Formen von Relationen zwischen unseren Vorstellungen von Innen und Außen, obwohl wir oft meinen, beide Vorstellungsbereiche seien unabhängig voneinander. Es ist alles andere als banal, bei einem Gefühl, einem Gedanken oder einem Handlungsmotiv die Frage zu stellen: Liegt die Ursache innen oder außen ? Verwechslungen sind an der Tagesordnung und haben Methode: Das, was ich im Inneren nicht aushalten kann, weil es zu schmerzhaft oder zu sehr mit anderen negativen Gefühlen behaftet ist, aus dem Inneren auszuschließen und es der äußeren Welt zuzuordnen, ist nur eine der Operationen, die wir unbewusst durchführen, um unsere Balance unter prekären Bedingungen zu bewahren.
In seinem Brief an Wilhelm Fließ vom 21. September 1887 teilte Freud seinem damaligen Freund die Entdeckung mit, dass die von den Patientinnen geschilderten Verführungsszenen zuweilen das Produkt phantasierter Rekonstruktionen, nicht aber reale traumatische Ereignisse waren. Infolge dieser Entdeckungen gab Freud die Verführungstheorie auf und hat die Teilung der Realität in eine innere und eine äußere als zwei getrennte Bereiche der menschlichen Existenz zur Grundlage des psychoanalytischen Denkens und des klinischen Verstehens gemacht. Dabei fällt auf, dass Freud, verglichen mit seiner lebenslangen Beschäftigung mit den Konzepten des Realitätsprinzips und der Realitätsprüfung und ihrer engen Beziehung miteinander kaum explizit seine Aufmerksamkeit dar auf gerichtet hat zu definieren, was er mit »Realität« oder der Unterscheidung zwischen äußerer (»faktischer«) und innerer (»psychischer«) Realität meint. Auch mit dem Begriff der »Realitätsprüfung« versucht er die Dynamik der Beziehung zwischen äußerer und innerer Realität zu beschreiben und zu verstehen. Die Wahrnehmung beider Realitäten, also innen und außen, ist dabei ständig von Illusionen bedroht. Sie beeinflusst unsere Realitätseinschätzung ständig. Die Differenzierung von äußerer und innerer Realität ist von der Psychoanalyse aber pragmatisch und nur an der Raummetapher (Grenzen, Räume oder Bereiche außerhalb und innerhalb) orientiert gehandhabt worden. Sie ist aber zu statisch, da wir inzwischen wissen, wie sehr unsere Wahrnehmung und Realitätsprüfung von subjektiven Faktoren triebhaft-narzisstischer Natur und deren Abwehr beeinflusst wird.
Wenn wir von einer Kommunikation zwischen Bewusstem und Unbewusstem sprechen, bringen wir auch zum Ausdruck, dass es in der konkreten Situation oft unmöglich ist, innere und äußere Realität trennscharf zu unterscheiden. Die Intersubjektivitätstheorie hält daher die Dichotomie von Innen und Außen für überholt und geht davon aus, dass auch die analytische Situation ko-konstruiert ist, nämlich durch die inneren Strukturen von Analytiker und Patient. Das analytische Arbeiten besteht sowohl im Trennen als auch im Verbinden von innerer und äußerer Realität, weil das die Voraussetzung für die Entstehung des »analytischen Dritten« ist, eines neuen Erfahrungsraumes, der Wandel und Strukturveränderung ermöglichen kann.
Die vorliegende Sammlung von Beiträgen zu dieser Thematik geht zurück auf die Jahrestagung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 2009 in Magdeburg. Im Mittelpunkt der Tagung stand das Spannungsfeld von äußerer und innerer Realität. Eine kurze Vorstellung der jeweiligen Beiträge wird Peter Diederichs in der Einführung präsentieren. Das Leitthema wird in den einzelnen Teilen des Buches unter folgenden vier thematischen Schwerpunkten diskutiert:
1 Psychoanalytische Erkundungen zur äußeren und inneren Realität
2 Lebensrealität und Übertragung – Innen und Außen im analytischen Prozess
3 Subjektives Erleben und objektive Erkenntnis – Erträge empirischer Forschung
4 Das historische Erbe und die Schwierigkeiten seiner Erinnerung – Psychoanalyse in Deutschland heute
Im ersten Teil erkunden die Autoren das Spannungsfeld von äußerer und innerer Realität unter Berücksichtigung theoretischer Perspektiven. Besondere Berücksichtigung finden die unterschiedlichen Aspekte und Formen des Einwirkens äußerer Realitäten auf den analytischen Prozess einschließlich der Interaktion von Subjektivem und Objektivem im künstlerischen Gestalten. Als Fortschreibung dieser Fragen thematisiert der zweite Teil den Einfluss der äußeren (Lebens-)Realität auf die analytische Situation bzw. den Übertragungs- und Gegenübertragungsprozess. In diesem Abschnitt stehen die behandlungstheoretischen Konsequenzen im Mittelpunkt der Diskussion. Zudem enthält dieser Teil Beiträge, die als Ergebnisse einer Podiumsdiskussion während der Tagung entstanden, in deren Mittelpunkt die Frage stand, inwiefern die Intersubjektivität zu Recht den Anspruch erheben kann, ein neues Paradigma in die Behandlungstechnik eingeführt zu haben. Im dritten Teil sind Beiträge zusammengefasst, in denen die Verschränkung von äußerer und innerer Realität empirisch untersucht wird. Gerade im psychoanalytischen Diskurs wird die Welt wissenschaftlichen Beschreibens, Messens und Zählens oftmals als fremde äußere Realität erlebt, die der analytischen Situation nicht ausreichend gerecht wird. Die Beiträge dieses Teiles zeigen jedoch exemplarisch, wie eine gegenseitige Befruchtung möglich wird. Der vierte und letzte Teil beschäftigt sich mit dem Einfluss gesellschaftlicher Systeme auf die innerseelischen Prozesse und Strukturen. Der Veranstaltungsort legte es nahe, der »äußeren« Dimension der deutschen Geschichte und Gegenwart und ihrer Bedeutung für psychoanalytische Prozesse und psychoanalytische Identität ganz besonderen Raum zu gewähren.
Wir möchten an dieser Stelle allen Autoren danken, die nicht nur die Jahrestagung mit ihren Beiträgen bereicherten, sondern diese auch zur Publikation in diesem Band zur Verfügung stellten. Dr. Heinz Beyer und dem Verlagsteam von Klett-Cotta danken wir für die sorgfältige verlegerische Betreuung. Ebenso gilt unser Dank Frau Viktoria Heine für die Redaktionsassistenz und die Übersetzung des Beitrags von Andrzej Werbart, Frau Cornelia von Kleist für die Übersetzung des Beitrags von Emanuel Berman, Frau Ellen Hammer für die Übersetzung des Beitrags von Shmuel Erlich, Frau Irene Roski für die Gewinnung des Frontispiz sowie der Magdeburger Vorbereitungsgruppe der Tagung. Ganz besonders gefreut hat uns, dass Marion Oliner ihren Beitrag nicht im vertrauten Englisch, sondern in ihrer Muttersprache Deutsch verfasst hat.
Jörg Frommer
Peter Diederichs
Franz Wellendorf
PETER DIEDERICHS
Einführung
Die vier Teile bauen aufeinander auf. Im ersten Teil erkunden die Autoren das Spannungsfeld von äußerer und innerer Realität in den unterschiedlichsten Bereichen.
Franz Wellendorf führt in das komplexe Thema ein. Er erläutert in der psychoanalytischen Praxis entwickelte Konzepte, die sich auf die Polarität von innerer und äußerer Realität beziehen, so z. B. Übertragung und Gegenübertragung oder projektive und introjektive Identifikation. Freud selbst hat, als er seine Verführungstheorie aufgab, auf die Teilung der Realität in eine äußere und innere aufmerksam gemacht. Laplanche und Pontalis wiesen im Kontext der Diskussion über »Realitätsprüfung« darauf hin, dass die Frage nach der äußeren und inneren Realität und ihrer Wechselwirkung auch eine Frage nach der Beziehung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung ist. Am Schluss regt Wellendorf an, die Schriften von Paul Parin wieder zu lesen, insbesondere »Die Anpassungsmechanismen des Ich und die Psychoanalyse gesellschaftlicher Prozesse«, weil sie »ein scharfes Licht auf die Beziehungen zwischen äußerer und innerer Realität werfen«.
Shmuel Erlich erkundet das Spannungsfeld von äußerer und innerer Realität aus der Perspektive seiner persönlichen und professionellen Entwicklung. Auf sie zurückblickend weist er dar auf hin, dass Analytiker in ihrer Arbeit dazu neigen, dem Unbewussten, also der inneren Realität oder inneren Objektwelt, mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der äußeren. Das gehört zwar zu ihrer professionellen Identität und durch diesen Focus grenzen sich Analytiker von anderen Therapie-verfahren ab, aber die gesellschaftlichen Verhältnisse dringen in ihr Behandlungszimmer, z. B. beeinflussen auch ökonomische Bedingungen die Verfügbarkeit von Patienten und ihre Bereitschaft, vier oder fünf Therapiesitzungen pro Woche wahrzunehmen. Erlich pro blematisiert in diesem Zusammenhang auch die Paradoxie des einsamen Analytikers und weist auf die Gefahr hin, dass Therapeuten den Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf ihre Arbeit unterschätzen, sie bleiben in sozialen Belangen in der Defensive und können deshalb auch ihre Inter essen in der Gesellschaft bzw. äußeren Realität zu wenig vertreten.
Auch Bruni Kreutzer-Bohn holt die äußere Realität in den Behandlungsraum, indem sie einleitend zeigt, wie der Zeitgeist (Stand-by-Gesellschaft, Multitasking, Internet und insgesamt die Beschleunigungskultur) das Fühlen und Handeln auch von Psychoanalytikern beeinflusst. In ihrem Beitrag: »Wie zu mir finden, wenn ich so außer mir bin« berichtet sie über einen Therapieverlauf und ermuntert die Analytiker – unter Berufung auf Bion – Behandlungsstundenprotokolle in einer Sprache zu schreiben, die deutlich macht, was wirklich in der Behandlung passiert.
Klaus Grabska demonstriert anhand von drei Fallvignetten, wie das Träumen Erlebnisse der äußeren in die innere Realität transformiert. Im Träumen kann es aber auch zu einer Verkehrung beider Realitäten kommen. Ebenso, wie es Halluzinationen im Wachzustand gibt, kann auch die innere Realität als äußere erlebt werden. Dar über hin aus schildert der Autor Behandlungsverläufe und differenziert zwischen der Arbeit im primär-neurotischen, psychosenahen und Borderline-Modus.
In Frank Blohms Beitrag über das Ausfallhonorar spielt der Einbruch der äußeren Realität in die analytische Situation eine wichtige Rolle. Dieses Thema wird in der Fachliteratur auffallend selten diskutiert, obwohl die Auseinandersetzungen dar über zwischen Analytiker und Analysand zu Meilensteinen (vom »Abbruch bis zum Durchbruch«) im analytischen Prozess werden können. Blohm zeigt die praxeologische Vielfalt im Umgang mit Honorarfragen und versucht das »Unbeha gen an dem Ausfallhonorar« bzw. die dabei aufkommenden Widerstände zu analysieren.
Der erste Teil schließt mit dem Beitrag von Wulf-Volker Lindner, der sich mit dem Verhältnis von äußerer und innerer Realität in der Kunst auseinander setzt. Im Laufe seiner Beschäftigung mit Kunst ist Lindner auf zwei für die Psychoanalyse bedeutende Fragen gestoßen: »Wie setzen sich Künstler mit ihrer äußeren und inneren Wirklichkeit auseinander ?« Und: »Wie wirkt das Unbewusste dabei mit ?«
Als Fortschreibung dieser Fragen thematisiert der zweite Teil den Einfluss der äußeren (Lebens-)Realität auf die analytische Situation bzw. den Übertragungs- und Ge genübertragungsprozess. In diesem Abschnitt stehen die behandlungstheoretischen Konsequenzen im Mittelpunkt der Diskussion.
Emanuel Berman beleuchtet das Thema in seiner ganzen Breite und regt zur Auseinandersetzung mit dem in den letzten Jahren verschärften behandlungstechnischen Diskurs zwischen Kleinianern und den relationalen oder mehr an der intersubjektiven Perspektive orientierten Psychoanalytikern an. Er differenziert u. a., ob man nur an Innen- oder auch Außenübertragungen arbeitet, unterscheidet innere und äußere psychoanalytische Ziele und thematisiert die sogenannte »Selbstenthüllung«. Unter Berufung auf Winnicott betont er die Wichtigkeit faktischer Lebensrealitäten, zu denen auch gehört, dass die »Phantasie« (oder die innerseelische Dynamik) in ihrer ganzen Stärke nur ausgehalten werden kann, »wenn auch die objektive Realität wohl gewürdigt wird«.
Wulf Hübner hat Bermans Beitrag kommentiert und dazu jenes Bild von Lucian Freud interpretiert, das als Titelbild dieses Bandes dient. Wie Berman betont auch er, dass die klinische Psychoanalyse primär zur Verbesserung des realen Lebens des Patienten beitragen soll, und warnt vor der Idealisierung bestimmter analytischer Konzepte, in denen die »potentiellen blinden Flecke« der eigenen Position unbemerkt bleiben können. Den Kommentar ergänzend, weist er auf die Bedeutung von Gegenübertragungs-Enactments hin.
In seinem eigenen Beitrag setzt Wulf Hübner sich dann detailliert mit der Metapsychologie von Gegenübertragungs-Enactments auseinander. Sie gehören für ihn zwar zur äußeren Realität, aber in das Behandlungszimmer, weil sie vom Analytiker »unbeabsichtigt« in die analytische Situation eingeführt werden. Außer dem wendet er sich der für die Behandlung bedeutsamen Frage zu: Wie aktiv dürfen wir mit unseren Patienten sein, zum Beispiel Geschenke annehmen ? Hübner bezieht sich dabei ausführlich auf die Arbeit von Treurniet über eine »Ethik der psychoanalytischen Technik«.
Diana Pflichthofer beschäftigt sich mit dem psychoanalytischen »Rahmen als Gesetz«. Ihn zu verlassen gilt als »unanalytisch«. Mit Jiménez fragt sie sich, ob
z.B. in den Stundenprotokollen wirklich immer berichtet wird, was tatsächlich in der klinischen Praxis oder im Behandlungszimmer passiert. Sie fragt zu Recht, ob wir nicht alle gelegentlich aus dem Rahmen fallen oder ob man Gegenübertragungs-Enactments nicht auch als Rahmenverletzungen verstehen könnte. Anhand von publizierten Fallvignetten und mit der Darstellung eines eigenen Behandlungsverlaufes problematisiert sie diesen »Rahmen als Gesetz« und plädiert für ein flexibles Setting der analytischen Situation, vor allem bei Patienten, deren Trauma von der Gleichgültigkeit oder dem Desinteresse der Primärobjekte ausgelöst wurde.
Die folgenden Beiträge von Altmeyer, Focke, Werbart und Wurmser sind die Ergebnisse einer auf der Magdeburger DPG-Tagung (Mai 2009) geführten Podiumsdiskussion, in der es um Intersubjektivität und ein angeblich neues Paradigma in der Behandlungstechnik ging.
Martin Altmeyer , ein leidenschaftlicher Vertreter der intersubjektiven Wende, problematisiert die kleinianische Behandlungstheorie. Er hat den Eindruck, dass eine fundamentalistische Gegenbewegung unter Führung der kleinianischen Schule die »wahre Psychoanalyse« gegen ihre »intersubjektivistische Verunreinigung und Verflachung« schützen will, und zeigt, dass die intersubjektive Wende fast sämtliche Schulen des psychoanalytischen Pluralismus ergriffen hat. Seines Erachtens besteht das neue Behandlungsparadigma dar in, dass der Psychotherapeut – im Gegensatz zur sogenannten klassischen Analyse – sich mehr im Hier und Jetzt bewegt und sich als gefühlsmäßig beteiligter Partner zu erkennen gibt. Die psychotherapeutische Beziehung bleibt zwar asymmetrisch, gewinnt aber eine »egalitäre Färbung«, weil der Analytiker der Wechselseitigkeit in der Beziehung und seiner realen Person mehr Aufmerksamkeit widmet.
Ingo Focke setzt sich kritisch mit diesem neuen Behandlungsparadigma auseinander. Er betont den Wert der kleinianischen Schule, weil sie eine fruchtbare Theorie der Entstehung einer inneren Objektwelt geschaffen hat. Die Behandlungspraxis dieser Schule stelle die Bearbeitung von Affektzuständen per Projektion und Introjektion in den Mittelpunkt. Er weist außerdem dar auf hin, dass in jüngerer Zeit (siehe Feldmann) auch die Beteiligung des Analytikers an der projektiven Identifikation des Patienten untersucht wird. Focke erwähnt in diesem Kontext die grundlegende Arbeit von Eizirik (2003) zu dem Thema bzw. der analytischen Haltung des Therapeuten: »Ist zwischen Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität noch Platz für analytische Neutralität ?«
Andrzej Werbart überprüft den Begriff der Intersubjektivität und fragt, was dar an neu ist, denn, so der Autor, implizit finde er sich schon in Freuds Schriften. Er meint auch, dass die Subjektivität des Analytikers zunehmend mehr Beachtung findet und die Behandlung dadurch individueller auf den Patienten abgestimmt werden kann, und folgert, dass ein Umformulieren der psychoanalytischen Kernkonzepte von Widerstand und Übertragung erforderlich sei, weil intersubjektive Widerstände die analytische Beziehung beeinflussen und strukturieren. Unter Berufung auf Fonagy und Kächele warnt er davor, zwischen der klassischen Behandlungstechnik, also Deutung und Einsicht, und dem intersubjektiven Ansatz zu polarisieren. Pa tien ten brauchen beides !
In dem letzten Beitrag dieses Teils weist Leon Wurmser dar auf hin, dass die »Relationsanalytiker« der 40er und 50er Jahre Erich Fromm und Frieda Fromm-Reichmann heißen. Sie waren von dem Denken Martin Bubers stark beeinflusst und gebrauchten Begriffe wie Interaktion, Beziehung oder Dialog für das, was heute intersubjektiv genannt wird. Wurmser setzt sich in erster Linie kritisch mit den zentralen behandlungstechnischen Fragen auseinander und reflektiert das Verhältnis von Innen- und Außenübertragungen, die Rolle der äußeren Realität in der analytischen Arbeit und den unaufhebbaren Gegensatz von Übertragungsbeziehung und realer Beziehung in jeder psychoanalytischen und psychotherapeutischen Arbeit.
Im dritten Teil sind Beiträge zusammengefasst, in denen die Verschränkung von äußerer und innerer Realität empirisch untersucht wird.
Michael Buchholz thematisiert die in der psychoanalytischen Therapie verbreitete Vorstellung, wonach das Seelische in der »Tiefe des Innenraums« gesucht werden müsse und sich nur schwer oder gar nicht mitteile. Er beruft sich auf Freud, der bei seiner Formulierung der Grundregel dar auf hinwies, dass es sich bei dem analytischen Gespräch um eine Konversation handelt. An genau transkribierten Beispielen einer Supervisions- und Gruppentherapiesitzung mit Sexualstraftätern wird sichtbar, was sich an der Oberfläche der Konversation an unbewussten Mitteilungen zeigt und wie es sich verstehen lässt.
Harald Gündel weist anhand der sorgfältigen Analyse eines Behandlungsverlaufes einer Frau mit pathologischer Trauer auf die neuroanatomische Funktionsweise des Gehirns hin. Nach einer Reihe von neurowissenschaftlichen Untersuchungen kam er zu der Erkenntnis, dass »emotional-seelischer« wie »organisch-körperlicher Schmerz« eine partiell gemeinsame neuroanatomische Basis besitzen. Außerdem gelang der Nachweis, dass die Erinnerung an den Verstorbenen im seelischen Erleben durch erhöhte zentralnervöse Dopaminausschüttung »belohnt« wird. Dar aus folgt, dass der Traueraffekt nicht immer verblasst, wie das im Rahmen eines normalen Trauerprozesses möglich ist.
Werner Köpp bestätigt in seinem Kommentar Gündels Befunde, dass psychoanalytische Konzepte und Neurobiologie sich gut ergänzen, z. B. Erkenntnisse zur Neurobiologie der pathologischen Trauer (bestimmte Transmitter wie Dopamin) die Rolle wiederkehrender Erinnerungen im Chronifizierungsprozess verständlicher machen. Außerdem bezieht er die Ergebnisse der Forschergruppe um Leuzinger-Bohleber über die Gedächtnisforschung und Neurobiologie mit ein.
Agathe Israels Beitrag war ursprünglich ein Ko-Referat zu dem Vortrag von Kai von Klitzing: »Vom inneren zum äußeren Kind – Kindesentwicklung und triadische Familienbeziehungen«. Klitzing untersuchte Kinder von 120 Familien von ihrer Geburt bis zum 9. Lebensjahr hinsichtlich ihrer triadischen Kompetenz. Sein Ergebnis ist eindeutig: Kinder mit guter Triangulierungserfahrung sind weit weniger sozial auffällig als Kinder mit gering ausgebildeter triadischer Kompetenz (sein Beitrag konnte in diesem Buch nicht mit aufgenommen werden, da die wichtigsten Ergebnisse schon an anderer Stelle publiziert worden sind (von Klitzing 2000)). Die reale Präsenz von Eltern, die sich ihrem Kind als primäre Beziehungspersonen verantwortlich zur Verfügung stellen, ist in unserer Zeit nicht mehr selbstverständlich. Israel zeigt zuerst die veränderten familiensoziologischen Bedingungen wie getrennte Wohnorte der Eltern, Alleinerziehung oder Partnerwechsel. Sie berichtet dann über eine beeindruckende Säuglings-Eltern-Psychotherapie (das 12 Monate alte Kind wurde wegen Schlafstörungen und Unruhe vorgestellt) und zeigt dar an, wie wichtig der Vater als zweiter emotionaler Bezugspunkt ist. Die lebendige Triade scheint auch unter den veränderten Familienverhältnissen eine wichtige Basis für das Beziehungserleben zu sein.
Der vierte Teil beschäftigt sich mit dem Einfluss gesellschaftlicher Systeme auf die innerseelischen Prozesse und Strukturen.
Marion Oliner spricht in ihrem bewegenden Beitrag vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen als gemeinsame Katastrophe von Tätern und Opfern. Ihre Familie gehört zu den Opfern. Sie weiß zwar, dass beide Seiten ihre Abwehr brauchen, sie selbst aber erlebt ihr Einfühlungsvermögen in die Täter auch als Verrat an den Opfern. Die Identifikation mit den Opfern hilft ihr, die eigene Überlebensschuld bearbeiten zu können. Ihr Titel »Drehen Sie sich nicht um, Frau Lot« verknüpft die Holocaust-Katastrophe mit der Zerstörung von Sodom und Gomorrha. Gott befahl bewusste Blindheit, keiner sollte sich umschauen. Er warnte damit vor Erstarrung und Nachträglichkeit. Frau Lot drehte sich um, sah die Katastrophe und erstarrte zur Salzsäule.
Christian Schneider setzt sich mit dem Beitrag Marion Oliners auseinander, indem er vor allem das »moralische Trauma« der Deutschen thematisiert. Er geht der Frage nach, wie insbesondere die nachgeborene Generation der Deutschen die »Katastrophe« (Zivilisationsbruch, Genozid oder Holocaust) nicht nur sich vorstellen, sondern für sich »darstellen« kann ! Mit Textstellen aus Freuds Traumdeutung versucht er, die Unterschiede zwischen Darstellung oder Darstellbarkeit und Vorstellung verständlicher zu machen. Während das vorgestellte Bild nur im Kopf bleibt, gelangt es dargestellt »an die Grenze von innen und außen, dort, wo sich Wunsch und Wirklichkeit treffen«. Schneider glaubt, dass der Nationalsozialismus als psychische Erbschaft auch unsere Symbolisierungsfunktion beeinträchtigt hat. Von ihr aber hängt die Möglichkeit einer Darstellung ab.
Elke Horn beschreibt in einem beeindruckenden Fallbericht die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Strukturen und intrapsychischen Prozessen, also den Einfluss äußerer Faktoren auf die innerseelische Welt. Es geht in diesem Fall um die Täter- und Opferintrojekte einer Nachgeborenen, der Tochter einer überzeugten Nationalsozialistin. Sie konnte dabei auf ein Dokument der äußeren Realität zurückgreifen, ein Kindertagebuch, das die Mutter über die Erziehung der Tochter in deren ersten drei Lebensjahren geführt hat.
Mit Ludwig Drees kommt ein Autor zu Wort, der seine ersten elf Lebensjahre im Nationalsozialismus erlebt hat und danach in der DDR aufgewachsen ist. Im Mittelpunkt seines Beitrages stehen die Auswirkungen zweier totalitärer Systeme, der Herrschaft des Nationalsozialismus und des stalinistischen SED-Regimes, auf die innere psychische Realität, insbesondere als deutsche Psychoanalytiker. Er bezieht sich auf das Konzept des tschechischen Psychoanalytikers Sebek, der vom »totalitären Objekt« spricht. Mit großem Mut zeigt Drees in zwei Fallvignetten auf, wie eigene Anteile eines totalitären Introjekts mit entsprechenden Konflikten des Patienten kolludieren, aber der psychoanalytische Prozess nach der Durcharbeitung vor anschreitet. Abschließend stellt er fünf Thesen auf, mit denen er die Befindlichkeit deutscher Psychoanalytiker in Ost und West nach der posttotalitären Sozialisation zu verstehen und zu interpretieren versucht.
Michael Froese, ebenfalls ein ursprünglich in der DDR sozialisierter Psychoanalytiker, geht in seinem Beitrag »von einer besonderen historischen Perspektive für ostdeutsche Patienten aus«. Ostdeutsche haben erfahren, wie fundamental kollektive Geschichte die psychische Entwicklung einzelner Menschen beeinflussen kann. Anhand von drei Kasuistiken fokussiert er auf psychohistorisch auffällige Übertragungs- und Ge genübertragungskonstellationen, z. B. können sich nach der Wende ehemalige politische Feinde im Therapiezimmer gegen-übersitzen, so, wenn einstige hauptamtliche Mitarbeiter der Stasi therapeutische Hilfe suchen. Als Folge dieser Erfahrungen entstand das »Wendeprojekt« in der Arbeitsgemeinschaft für Psychotherapie Berlin (APB). Für den Raum Berlin wurde u.a. die Frage thematisiert: Welche Ostpatienten suchen sich lieber einen Ost- oder Westanalytiker aus ?
In dem Beitrag von Bertram von der Stein kehrt sich die Konstellation um. Als West-Analytiker im Raum Köln hat er zwei aus der DDR stammende Frauen in psychoanalytische Behandlung genommen. Ihre Identitätsprobleme sind sicher nicht nur der Wende zuzuschreiben, aber aus der Darstellung der beiden Behandlungsverläufe wird sichtbar, wie sich die psychosozialen Folgen einer posttotalitären Gesellschaft im Osten und die Entwicklungsprobleme einer »postmodernen, durch Überfluss und Sinnkrisen geprägten Gesellschaft im Westen gegen über stehen und sich gegenseitig durchdringen«.
Durch den Zusammenbruch totalitärer Regime im Osten ergab sich die Möglichkeit, Prozesse zu studieren, die sich zuvor nur hinter dem Eisernen Vorhang abgespielt haben. Eine Forschergruppe aus Ost und West, zu der auch die Wiener Psychoanalytikerin Catherine Schmidt-Löw-Beer , die Autorin dieses Beitrages, gehört, stellte sich die Frage, wie sich die kommunistische, also die äußere Realität, auf die Psyche bzw. die inneren Objekte der Jugendlichen auswirkt. Mit Hilfe eines Interviewleitfadens wurden 16-jährige österreichische und russische Jugendliche beiderlei Geschlechts aus Wien und Sankt Petersburg untersucht. Die Forscher fanden charakteristische Unterschiede, die aber mit aller Vorsicht und unter Berücksichtigung der Ge genübertragung der jeweiligen Untersucher interpretiert werden.
Das Buch schließt mit dem aktuellen Beitrag von Matthias Kayser und Birgit Homuth über zwei Wiederannäherungen: die von DPG und IPV sowie die von (ehemaliger) DDR und BRD. Die Autoren gehen dabei von den Befi ndlichkeiten im Übergang aus und fragen u. a., ob sich der innerseelische Raum der Einzelnen verändert, wenn ihre Großgruppe sich neu ausrichtet. Sich wieder annähern (DPG an IPV und DDR an BRD) ist also in verschiedenster Hinsicht ein heikler Prozess. Wir wissen, dass Spaltungen oder Trennungen unbewusst für die Externalisierung »geeigneter Reservoirs« benutzt werden (z. B. Vorurteile schaffen). Wie wird sich ein DPGler fühlen, der nicht in die IPV aufgenommen wird; wie fühlen sich 20 Jahre nach der Wiedervereinigung vor allem ältere Ostdeutsche ? Die Autoren nutzen Erfahrungen aus der deutschen Wiederannäherung als Folie, um die gegenwärtigen Übergangsphänomene in der DPG besser beschreiben und bewältigen zu können.
»Wir alle sind, mehr oder minder schmerzlich, von der Differenz von Innen und Außen betroffen. Niemand von uns weiß im Letzten, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Keine Wissenschaft kann uns abnehmen, uns in Lebenskunst zu üben. Gerade der traumatisierte Mensch, der von einem gewaltigen äußeren Ereignis in seinem Innern nicht loskommt, bedarf umso mehr der lebensklugen Empathie des ihn therapierenden Gegenüber. Die Bedeutung dieses Buches besteht darin, diesen Gedanken gründlich an der psychoanalytischen Theorie selber exekutiert zu haben.«
René Weiland, Deutschlandradio Kultur, 17.7.2011