Paris, Ende des 19. Jahrhunderts – Inspektor Dobrowsky und der Offizier Etienne Laurens müssen den Mord an einer Schauspielerin aufklären.
Die Anfänge von Ernst Jüngers 1985 erschienener Kriminalgeschichte lassen sich bis in die späten 1940er und 1950er Jahre zurückverfolgen. Die lange Entstehungszeit führte aber nicht zu einer Lockerung und zu einem Auseinanderstreben der Handlungselemente, sondern zu einer gesteigerten Konzentration und zu einer Prosa, die der »Gefährlichen Begegnung« eine Sonderstellung selbst im Werk dieses Autors sichert.
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Eine gefährliche Begegnung
Ein Sonntagvormittag in Paris
1
Es war der erste Sonntag im September, ein blauer Tag. Um diese Zeit drängt sich die Pracht des Sommers oft noch festlich zusammen, bevor herbstliche Farben aufglimmen. Die Nächte sind frischer; das macht den Morgen tauig und den Vormittag mild und angenehm. Das Laub der Bäume ist dunkler geworden; es hebt sich wie getrieben vom Himmel ab. Auch in den Städten wird es kühler; ein Hauch von Luxus und Heiterkeit zieht ein.
Gerhard stand vor dem kleinen Schmuckplatz der Trinite. Die Gärtner hatten die Beete schon mit den ersten Herbstblumen besetzt. Auf einer schmalen Rabatte blühte noch, aus hellem Grün aufschießend, das Indische Blumenrohr. Sein Band war von Rondellen unterbrochen, auf denen vielsternig eine blaue Aster sich erhob. Die Blüten leuchteten im Sonnenlicht. Bienen und Blumenfliegen umschwirrten sie. Ein Admiral mit ziegelroten Binden ruhte auf ihrem Polster aus. Er drehte sich langsam auf ihrem Sammet und schlug in lässigen Intervallen die Flügel auf. Er mußte von weither über die hohen Dächer eingeflogen sein. Ein zweiter gesellte sich ihm zu. Die Falter begannen sich zu umkreisen und stiegen, dem Blick entschwindend, in die Bläue auf.
Von Saint-Lazare ertönten helle Knabenstimmen; sie riefen die Sonntagsblätter aus. Die Glocken begannen anzuschlagen, und eine festlich geschmückte Menge trat aus dem Kirchentor, um sich den Wagen zuzuwenden, die auf dem Platze warteten. Es war ein Hochzeitszug. Der Anblick unterbrach die müßige Betrachtung, in der Gerhard befangen war. Er mischte sich unter die Passanten, die zusammenströmten und sich wieder zerstreuten, als die Wagen abrollten. Dann wandte er sich wie jemand, dem es nichts ausmacht, ob er diesen oder auch jeden anderen Weg einschlägt, in die Rue Blanche und schlenderte den Berg hinan.
Im Schatten der Häuser war es kühler; die Straßen waren frisch gesprengt. Das Wasser floß an den Rändern der Gehsteige hinab. Das sonst von lärmender Geschäftigkeit belebte Viertel war an diesem Vormittag stiller; es fehlten die Händler, die in den Straßen Fisch, Obst und Gemüse feilboten. Heut sah man nur Blumenstände dort. Die Stadt schien leerer und damit feierlicher; ein großer Teil des Volkes weilte an den Ufern des Flusses oder in den Vororten. Noch sah man die letzten Wagen nach draußen fahren; sie waren bis auf das Verdeck von jungen Leuten und ihren buntgekleideten Gefährtinnen besetzt. Sie würden mittags im Grünen sein und spät zurückkehren. Die Pferde gingen hier im Schritt; die Hufe glitten auf dem steilen Pflaster aus.
Obwohl er seit über einem Jahr die Stadt bewohnte, war jeder dieser Gänge für Gerhard ein Mysterium. Er hatte kaum das Gefühl, durch Plätze und Straßen sich zu bewegen; es schien ihm eher, als ob er durch Fluchten und Flure eines großen, unbekannten Hauses schritte oder auch Schächte durchirrte, die durch geschichtetes Gestein geführt waren. In mancher Gasse, an mancher Kreuzung wurde dieser Zauber besonders stark. Er gab sich kaum darüber Rechenschaft. Es waren weniger die Denkmäler und die Paläste, die ihn ergriffen als Zeugen historischer Vergangenheit. Eher war es das namenlose Leben, das diese Residenz gebildet hatte wie einen Korallenstock – ihr Schicksalsstoff. Er fühlte sich daher in jenen Vierteln, die gegen alle Regeln der Architektur gewachsen waren und sich im Lauf der Jahrhunderte verschachtelt hatten, besonders wohl. Zahllose Unbekannte hatten hier gelebt, gelitten und sich erfreut. Zahllose hausten noch auf diesem Grund. Das hatte sich dem Mörtel mitgeteilt. Die Kraft war ungemein verdichtet, ja wunderbar. Und immer belebte ihn das Gefühl, daß dieses Wunderbare sogleich Gestalt annehmen könnte: durch einen Brief, durch eine Botschaft, eine Begegnung oder ein Abenteuer, wie es in Schatzgrotten und Feengärten spielt.
Bei diesen Gängen erfüllte ihn eine große Zärtlichkeit. Er war gestimmt wie eine ausgeruhte Saite, die kaum der Hand bedarf, die auf ihr spielt. Ein Hauch, ein Sonnenstrahl genügten, damit sie schwang. Das Unberührte umgab ihn wie ein Schimmer, der auch für stumpfe Augen sichtbar wird.
Gerhard bog in die Rue Chaptal ein. Die Straße war menschenleer. Zur Linken leuchteten Plakate an beiden Seiten einer Sackgasse. Sie mündete in ein winziges Theater, das neben Tanzlokalen und anderen Vergnügungsstätten dem Hang sein Gepräge gab. Er lag nun wie ausgestorben, doch würde er sich märchenhaft erhellen, sowie die Nacht einbrach.
Gerhard entsann sich dieser Bühne – sie zählte zu den absonderlichen Orten, die zu besuchen der Fremde nicht versäumt. Man mußte sie gesehen haben, ähnlich wie die Katakomben, die Leichenhalle auf der Seine-Insel oder den großen Friedhof des Pere Lachaise. Wie diese war er eine düstere Stätte; man führte nur makabre Stücke auf. Sie lehnten sich an den Stil des alten Kasperle-Theaters an und münzten in marionettenhafter Starre grausige Motive aus. Im allgemeinen reizte der Besuch nicht zur Wiederholung, doch hatte sich um den Ort ein Publikum gebildet, das dessen Eigenart entsprach. Es rekrutierte sich aus der Unterwelt des Viertels: Männern mit starkem Kinn und ausrasiertem Nacken, die grell geschminkte Mädchen begleiteten. Daneben sah man Sonderlinge, abgewrackte Greise und Fremde mit den Narben puritanischer Erziehung, auch Halbwüchsige voll blanker, gieriger Wachsamkeit. Der Bogen vibrierte, er war noch nicht erprobt. Oder er war ermattet, sei es durch Macht und Reichtum, sei es durch zügelloses Leben; er wurde nur durch die schärfsten Reize noch gespannt. Das einte sich, wenn die drei Schläge des Regisseurs erklungen waren, im Banne, den die nackte Grausamkeit erzwingt. Dazu kam noch die Blasphemie, die darin lag, daß das Theater in der Kapelle eines aufgelassenen Klosters eingerichtet und das Eigentümliche des Ortes kaum verändert worden war. Man konnte meinen, im Chorgestühl einer Schwarzen Messe beizuwohnen, die böse Mönche feierten.
Gerhard blieb vor dem Eingang stehen und studierte die Anschläge:
DER NEUE BLAUBART
REALISTISCHES SCHAUSPIEL IN DREI AKTEN
VON LEON GRANDIER
Es folgten die Personen und die Namen der Schauspieler. Die Lettern schienen mit dem Pinsel aufgetragen; rote Tropfen lösten sich von ihnen ab. Darüber sah man das Bildnis eines bärtigen Mannes, der sich, ein Messer zwischen den Zähnen, aus dem Fenster eines Hauses schwang.
Das Thema war aktuell. Die Blätter flossen über von Berichten über Untaten eines Mörders, der seit Monaten in London sein Wesen trieb. Es schien, daß er nur Frauen zum Opfer wählte und daß er unter diesen eine bestimmte Auswahl traf: Freudenmädchen, Vorstadtschauspielerinnen, Sängerinnen von Tingeltangeln, Halbwelt schlechthin. Das Ganze war widrig, als ob ein Raubfisch in Abwässer eingedrungen wäre, und mit jedem Morde wuchs die Erregung; sie strahlte auf alle Städte Europas aus. In diesem Unhold schien äußerste Verwegenheit mit der Vorsicht eines Tieres sich zu paaren – noch niemand hatte ihn gesehen.
Wie es nichts Abgeschmacktes und auch nichts Fürchterliches gibt, das nicht die Menschen anzieht und selbst zur Nachahmung verleitet, so auch hier. In allen großen Städten hausen Geister, die der Ruhm der Unterwelten lockt. Auch in Paris schien ein Irrer in dem Londoner sein Vorbild entdeckt zu haben, falls nicht sogar dieser selbst hier ein Gastspiel gab.
Die Polizei schloß das nicht aus. Zwei ihrer Berichte, die unmittelbar einander folgten, wiesen darauf hin. Der eine schilderte das Ende der Lascari, einer sowohl berühmten wie auch berüchtigten Soubrette, die in einern der Stundenhotels nahe der Avenue de Wagram tot aufgefunden worden war. Der zweite meldete den Mord an einern Freudenmädchen im Flur eines Tanzlokals der Rue de Lappe. Die Taten hatten eine ungemeine Aufregung entfacht. Es war kein Wunder, daß eine Bühne, die vom Grauen lebte, sich des Themas bemächtigte.
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die ...
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