Das Gerede von Werten bedroht die Menschenwürde
Werte gibt es mittlerweile im Überfluss. Sogar ein Militärbündnis wie die NATO wird zur »westlichen Wertegemeinschaft« überhöht. Und seit dem 11. September werden in der westlichen Welt dem Phantomwert der Sicherheit Stück für Stück Freiheitsrechte geopfert.
In diesem fulminanten Essay rechnet Eberhard Straub ab mit der Inflation der Werte. Er rehabilitiert dagegen den Begriff der Würde und verteidigt die menschliche Freiheit.
Das Wörtchen »Wert« hat Konjunktur. Doch von Werten wird erst im vollendeten Kapitalismus geredet, also seit dem späten 18. Jahrhundert.
Auf dem Markt, auf dem alles zur Ware und jede menschliche Beziehung zu einer Geldbeziehung wird, hat diese Rede tatsächlich ihren Sinn. Aber außerhalb des Marktes leistet sie gerade nicht, was sie verspricht. Denn Beständigkeit haben Werte nicht zu bieten. Sie sind schwankend wie die Börsenkurse, und in ihrem Drang, sich gegen andere Werte durchzusetzen, können sie zum Feind der Freiheitsrechte werden.
Nach einem kritischen Gang durch die Geschichte der Wertphilosophie - von Friedrich Nietzsche und Karl Marx über Nikolai Hartmann bis zu Christian von Ehrenfels - erkundet Eberhard Straub die Abstrusitäten, die die Inflation der Werte in unserer Zeit produziert. Er entlarvt eine verlogene Terminologie, die von Toleranz und Freiheit redet, aber auf Intoleranz und Unfreiheit abzielt.
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EINLEITUNG
Die beiden entscheidenden Mächte, welche das sittliche Leben bestimmen und bedingen, der göttliche Geist und der individuelle Menschengeist, sind außerhalb des Staatsbereiches. Das Reich der Sittlichkeit ist viel umfassender als das Reich des Staates. Wenn der Staat dasselbe beherrschen will, so überschreitet er die Schranken, die ihm gesetzt sind, und wirkt schädlich für die Sittlichkeit.« Diese Vorstellung Johann Caspar Bluntschlis teilten die liberalen Bürger im 19. Jahrhundert. Der neutrale Staat hat festzusetzen, was rechtens ist, um eine Rechtsordnung zu ermöglichen, in der jeder, ohne den anderen zu schaden, seine Freiheit nach eigenem Ermessen verwirklichen kann. Der Staat entbehrte damit keineswegs der sittlichen Legitimation, weil er die Freiheit der Bürger schützte, eine Freiheit, die den Staat braucht, um sicher zu sein vor Übergriffen aus der immer beweglichen und unter sich uneinigen Gesellschaft. Außerdem hing er über seine Bürger mit den Mächten zusammen, die das sittliche Leben bestimmen, mit der christlichen Religion und den verschiedenen philosophischen Schulen. Dennoch machte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein wachsendes Unbehagen am Pluralismus bemerkbar und an der Historisierung aller Ideale, Tugenden, Überzeugungen als vorübergehende, zeitverhaftete Erscheinungen, die im dauernden Werden aufsteigen und absinken. Diese Relativierung aller sinngebenden Mächte überforderte ganz offensichtlich den Bildungsbürger, der sich vor Sinnverlust, Nihilismus und dem Kampf der Kulturen fürchtete.
Keine Gesellschaft kann ohne einige gleiche Glaubenslehren gedeihen, wie Alexis de Tocqueville 1840 zu bedenken gegeben hatte, denn ohne gemeinsame Vorstellungen gibt es kein gemeinsames Tun, und ohne gemeinsames Tun gibt es zwar Menschen, aber keinen Gesellschaftskörper. Während der fortschreitenden Demokratisierung, die ein gemeinsames Wollen forderte, konnten die konkurrierenden, oft einander entgegengesetzten Ideen und sozialen Bestrebungen gerade nicht eine wünschenswerte Übereinstimmung der Gemüter wenigstens in den wichtigsten Fragen bewirken. Der Grund für die Zerrissenheit innerhalb der Gesellschaft wurde neben der historistischen Relativierung sämtlicher Gedanken und Glaubenssätze im zunehmenden Materialismus vermutet. Beide trennen den Menschen und Bürger vom Ewigen, von über den Zeiten schwebenden Ideen und verweisen ihn auf den gegenwärtigen Augenblick, um ihn zu nutzen im Erfolgsstreben, bei der Jagd nach raschem Gewinn und schnellen Genüssen. Die dadurch erzeugte allgemeine Unrast nötige jeden, zum Ausdruck seines engen Berufes zu werden, statt sich zum freien Menschen auszubilden. Die Arbeit und der Beruf vereinzelten, trennten die Individuen voneinander, die alle als Lohn- und Gehaltsempfänger in verschiedenen Graden unfrei waren, weil in Abhängigkeit gehalten.
Die große Idee der Freiheit, für die Max Stirner 1845 die suggestive Formel fand »Der Einzige und sein Eigentum«, erwies sich als große Illusion, weshalb aber die Hoffnung, zur Freiheit zu finden oder zu einem bekömmlichen Ausgleich von Vergesellschaftung und Individualisierung, nicht schwächer wurde. Sozialisten, Bildungsbürger, humanistische Idealisten oder Christen erkannten im ruhelosen Geld den alles umstürzenden Beweger. Was der Mensch aus seinen eigenen Wesenskräften nicht vermag, das kann er durch das Geld. Er kann alles kaufen, es ist der einzige Wert und das wahre Vermögen. Der Bourgeois kam mit Hilfe des Geldes zu seiner Macht und wird nun von ihm über den Globus gejagt. Es gibt kein anderes Band mehr zwischen den Menschen als das Interesse und die gefühllose, bare Zahlung, wie Karl Marx 1848 schrieb. Alles Übrige ist in dem eiskalten Wasser der Berechnung ertränkt worden. Die Bourgeoisie »hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen, verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt«. Der Fluch, der am Geld haftet, äußert sich, wie Karl Marx es nannte, in dessen alles »verkehrender Macht«. »Da das Geld, als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes, alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten.« Was der Mensch nicht vermag, das kann der Bürger durch das Geld.
Alle Leidenschaften und alle Tätigkeiten verschmelzen mit der Habsucht. Das Haben verzehrt das Sein des Menschen. Was Karl Marx sagte, drang über Thomas Carlyle, John Ruskin, Claude Henri de Saint-Simon, Pierre-Joseph Proudhon, Giuseppe Mazzini oder Richard Wagner zu den beunruhigten Bürgern, die sich am Sein beglückt erhalten wollten und stattdessen wie die Butter auf der heißen Kartoffel schwammen. Sie suchten Halt, um sich und ihre bürgerliche Welt in der flüchtigen, alles aufhebenden Zeit dennoch in Sicherheit zu bringen. Sie suchten einen Halt außerhalb der von ihnen erst ausgelösten Relativierung sämtlicher Kulturphänomene. Schaffe den Dingen Dauer, das hielten sie mitten in der Erscheinungen Flucht für ihren besonderen Auftrag. Als Bürger gehörten sie zu der Klasse, die dem Kapitalismus in immer kürzer aufeinanderfolgenden Innovationsschüben zu seinem umfassenden Erfolg verhalfen und damit das Geld zum Maß aller Dinge erhoben, das den Menschen als Maßstab ersetzte. Als Humanisten entsetzten sich die Bildungsbürger allerdings vor der Ökonomisierung aller Lebensbezüge. Nachdem einzelne ihrer bürgerlichen Philosophen oder Historiker Gott aus der Welt vertrieben hatten, beobachteten sie ängstlich, wie bürgerliche Naturwissenschaftler die Natur entseelten, verdinglichten und für den Verbrauch durch industrielle Verwertung präparierten. Die Natur, das Naturrecht, die Menschenrechte, die in ihr wurzelten, verloren ihre überzeitliche Würde und entwurzelten den Menschen, der nun auch in der Natur keine Heimat, keine Wohnung mehr fand. Mit dem Tod Gottes, den Nietzsche ausrief, hing unmittelbar der Tod der Natur zusammen, die ein Ersatzgott sein sollte und zum natürlichen Leben, zum Einklang mit ihren immer gültigen Gesetzen und Regeln überreden sollte.
Der Mensch konnte von nun an ganz prometheisch zum Selbstschöpfer werden, der ununterbrochen für Neuwertigkeiten sorgt und den Markt belebt, der jetzt die lebendige Natur ersetzte, die zur Materie schrumpfte, zur Ressource wurde und der Ausbeutung zur Verfügung stand, wie längst schon der Mensch. Die Vertreibung des Menschen aus dem Mittelpunkt der Schöpfung, die Verwandlung des Ebenbildes Gottes in ein höher entwickeltes Tier unter Tieren, der Tod eines besonderen Menschenbildes war die letzte Folge von Gottes und der Natur Tod. Die Zukunft schien in posthumane Zeiten zu leiten. Die Humanisten waren um 1900 verzweifelt. Sie suchten jenseits der Geschichte und des Ökonomismus, den zeitverschlingenden Mächten, ewige, dauerhafte Werte, die nicht schwankten wie die Börsenkurse, sondern das Gute, Wahre, Schöne davor bewahrten, völlig beliebig und unbestimmt zu werden. Als Zeitgenossen des zur Reife gekommenen Kapitalismus konnten sie sich nur in Werte flüchten, um damit, wie Karl Marx spottete, die ganz praktischen Verwertungsmechanismen und Mehrwertanhäufungen mit einer Ideologie der Werte hinter einer feierlich verzierten Fassade zu verbergen. Das Wertedenken gehört unmittelbar zur Marktwirtschaft. Erst seit dem vollendeten Kapitalismus, seit dem späten 18. Jahrhundert wird vom Tauschwert, Handelswert, Gebrauchswert, Sachwert, Mehrwert oder Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die industrielle Produktion und deren Bewertung durch den kritischen Verbraucher geredet.
Auf dem Markt, auf dem alles zur Ware und damit zum Wert wird und jede menschliche Beziehung zu einer Geldbeziehung, haben die Werte ihren sinnvollen Platz. Außerhalb des Marktes leisten sie gerade das nicht, was Wertsetzer vorgeben, durchaus zu ermöglichen, nämlich Sinnstiftung, weil sie ihren ökonomischen Ursprung nie vergessen machen können. Das Wertedenken war von vornherein ein hilfloser Versuch ratloser Bürger, den alles umfassenden Ökonomismus abzuschwächen und die Werte in Zeiten, als die Nationalökonomie zur Leitwissenschaft und Leitkultur wurde, zu moralisieren oder zu objektivieren. Auf dem freien Markt entscheidet der Einzelne - ob als Produzent oder Konsument - mit seinem Wünschen und Begehren über Wert und Unwert. Wertentscheidungen sind subjektiv, trotz aller Versuche, den Verbraucher über verborgene Agenten in der Werbung zu beeinflussen, die ganz bewusst auf seine irrationalen Begierden zielen. Nicht anders verhält es sich mit den geistigen, sittlichen oder kulturellen Werten. Sie gewinnen erst eine Bedeutung oder eine Macht, wenn sie geltend gemacht werden von Wertsetzern, die sie durchsetzen wollen. Hinter jedem sogenannten Wert steht ein Interessent mit seinen eigenwilligen Absichten und Zwecken.
Es gelang nicht, den Werten ein eigenständiges, über jeden Widerspruch erhabenes Sein zu verschaffen, unabhängig vom Begehren subjektiver Temperamente, vergleichbar den Ideen Platons. Denn alles, was einem Einzelnen liebenswert oder wünschenswert vorkommt, kann zu einem Wert erhoben werden, sofern es genug andere gibt, die seine Erwartungen teilen. Außerdem schließt jede Behauptung eines Wertes unvermeidlich - wie auf dem Markt - die Negation anderer Werte als minderwertig oder wertlos ein. Werte sind deshalb kämpferische Begriffe, weil deren Vertreter im Pluralismus der Meinungen und Möglichkeiten Nachteile für sich fürchten, sofern es ihnen nicht gelingt, die Ansprüche anderer Wertverfechter abzuwehren. Der Kampf der Werte um ihr Dasein beziehungsweise im Wettbewerb der Wertsetzer, ihre Werte zu realisieren, zu aktualisieren und ihnen möglichst breite Anerkennung zu verschaffen, führt zu ständiger Unruhe und dauerndem Auf und Ab der privaten und kollektiven Moden, Nervositäten und Mentalitäten. Die Werte haben es mit dem richtigen und guten Handeln zu tun, mit der Ethik und Moral, also mit dem Reich des Sittlichen, aus dem sich der Staat heraushalten soll. Voltaire verkündete einst, es gebe nur eine Moral, wie es nur eine Geometrie gebe. Er glaubte an die eine, immer gleiche Menschheit und Natur. An dieser unhistorischen Doktrin möchten Wertsetzer unbedingt als froher Botschaft festhalten, ungeachtet aller Wertkonflikte und Wertdebatten über Wertewandel oder Werteverfall.
Die Werte sind ganz offensichtlich weder universal - sonst spräche man nicht von europäischen oder westlichen Werten - noch beständig, wenn sie sich bei der allgemeinen Beschleunigung des Lebenstempos immer rascher wandeln können. Die Werte, die bislang keiner begrifflich zu bestimmen und von Normen, Prinzipien, Glaubenssätzen oder Idealen zu unterscheiden vermochte, gibt es mittlerweile im Überfluss als beliebige Sonderwerte: als christliche, soziale, kulturelle, ästhetische Werte, die Lebenswerte, Ordnungswerte oder Gestaltungswerte sein können, doch im Wertepluralismus je nach den Umständen der Zeit und des Landes mit ihrer unterschiedlichen Werteerziehung verschieden bewertet werden können. Die Zukunft der jeweiligen Werte ist höchst ungewiss. Die Werte führen also in ein unsicheres Gelände, auf dem kein Geländer festen Halt gibt.
Insofern gewinnt eine Rechtsordnung und Rechtsgemeinschaft keine höhere Sicherheit, wenn sie zu einer Wertordnung und Wertegemeinschaft umgedeutet wird. In Deutschland wird immer wieder die Wertordnung, das Wertesystem oder das Menschenbild des Grundgesetzes beschworen, freilich nicht mehr vom Bundesverfassungsgericht, das in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dieser Ideologisierung der Verfassung begonnen hatte.
Nach den Rechtsbrüchen während der nationalsozialistischen Epoche wollte man nicht nur den bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaat neu begründen, sondern ihn möglichst mit sittlichen Mächten verbinden. Im Grundgesetz werden Werte an keiner Stelle erwähnt und es kennt demgemäß auch kein Menschenbild. Wie der Einzelne seine Menschenwürde verwirklicht, bleibt allein ihm selber überlassen. Aber es wurde bald Brauch - sehr zum Verdruss strenger Juristen von Heinrich Ipsen über Ernst Forsthoff bis zu Ernst-Wolfgang Böckenförde -, mit Wertbeteuerungen die neutrale Verfassungsordnung mit Sinn aufzuladen und den Rechtsstaat wegen der Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus vor seiner Inhaltslosigkeit und formalen Entleerung zu bewahren. Die Anrufung von Werten konnte um 1930 den Aufstieg des Nationalsozialismus nicht aufhalten. Das hielt aber Politologen, Soziologen und Journalisten nicht davon ab, in Ermangelung einer Staatsideologie Werte zu beschwören und der Verfassung als einem sakrosankten Buch »zivilreligiöse« Weihen zu erteilen. Werte sollten als Ersatz für die Metaphysik und die religiöse oder philosophische Dogmatik dienen, als solche werden sie weiterhin beschworen, indessen auch mit der Europäischen Union und der NATO als Wertegemeinschaft verbunden.
Damit wird Alexis de Tocquevilles Eindruck bestätigt: »Die Menschen, die im Zeitalter der Gleichheit leben, haben so viel Neugierde und wenig Muße; ihr Leben ist so unternehmend, so verwickelt. So erregt, so tätig, dass ihnen zum Denken nur wenig Zeit bleibt. Die Menschen des demokratischen Zeitalters lieben die Allgemeinbegriffe, weil sie dadurch der Versenkung in die Einzelfälle enthoben sind; sie enthalten, wenn ich so sagen darf, viele Dinge in kleinem Raum und führen in kurzer Zeit zu einem großen Ergebnis.« Das Wort Wert klingt wertvoll und erhaben, seine begriffliche Unbestimmtheit verleiht ihm Fülle und Bedeutung. Außerdem muss es irgendwo in der geistigen und sittlichen Welt eine Autorität geben. »Die Frage ist also nicht, zu wissen, ob es im demokratischen Zeitalter eine geistige Autorität gibt, sondern allein, wo sie enthalten ist und welches ihr Ausmaß sein wird.« Die Deutschen zweifelten nach 1945 an allen Autoritäten. Zur einzigen Autorität erhoben sie ihr Grundgesetz als neue Bundeslade und würdigten als Hohe Priester dieses neuen Bundes von Staat und Sittlichkeit die Verfassungsrichter in Karlsruhe. Damit entfernten sie sich von den liberalen Traditionen und sprachen dem Staat Interventionsmöglichkeiten in den ihm entzogenen Reichen der Sittlichkeit zu.
Das machte die Freiheit, in der sich die Menschenwürde auslebt, nicht sicherer, ganz im Gegenteil, die Rechtsordnung kann als Wertordnung zum Schauplatz ganz neuer Freiheitsberaubungen werden. Werden die materialen Festlegungen einer Verfassung als »objektive Wertordnung« verstanden, dann hat ein solches Wertesystem Geltung für alle Bereiche des Rechtes, das in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eingreift. Eine solche Verfassungsinterpretation »sanktioniert damit bestimmte politisch-ethische Grundüberzeugungen, denen sie allgemeine Rechtsgeltung verleiht, und diskriminiert andere, die diesen entgegenstehen. Freiheit gewährleistet sie nicht mehr unbedingt, im Wege rechtlich-formaler Ausgrenzung, sondern nur innerhalb der Wertgrundlage der Verfassung: wer sich außerhalb dieser sogenannten Wertgrundlage stellt, ... hat keinen Anspruch mehr auf politische Freiheit«, wie der ehemalige Verfassungsrichter Böckenförde mahnte. Der Freiheit verbürgende Grundsinn des Rechtsstaates gerät dann in Gefahr. Denn eine verfassungsrechtlich normierte Lebensordnung ist nicht diskutierbar, man kann sie nur befolgen, und wer das nicht tut, verliert seine freiheitliche Selbstbestimmung und wird rechtlos. Und der Kapitalismus vollendet sich nicht im Rechtsstaat, sondern in der Wertegemeinschaft, deren Werte wie auf dem Markt dauernd verändert werden können. Die Würde des Menschen ist längst antastbar geworden und seine Freiheit damit längst eingeschränkt, weil ja auch »der Staat« vor dem Markt und seinen Werten kapitulierte. Der Rechtsstaat droht zu einem historischen Begriff zu werden, den die Wertegemeinschaft überholt hat, die freilich mancher Verkleidungen bedarf, um ihre Sinnlosigkeit feierlich-schmückend zu einem festlichen Erlebnis zu machen.
KAPITEL I - Die Geburt der Werte aus dem Geist des Kapitalismus
Tugend findet jetzt keinen Glauben mehr, ihre Anziehungskraft ist dahin; es müsste sie denn einer etwa als eine ungewöhnliche Form des Abenteuers und der Ausschweifung von neuem auf den Markt zu bringen verstehen. Sie verlangt zu viel Extravaganz und Borniertheit von ihren Gläubigen, als dass sie heute nicht das Gewissen gegen sich hätte. Freilich für Gewissenlose und gänzlich Unbedenkliche mag eben das ihr neuer Zauber sein: - sie ist nunmehr, was sie bisher niemals gewesen ist, ein Laster.« Diese Notiz fand sich im Nachlass Friedrich Nietzsches unter seinen Überlegungen zur neuen Moral eines neuen Menschen, der gefährlich lebt, durch Kriege und Siege gekräftigt ist und dem deshalb geistige oder praktische Eroberung und Abenteuer zum Bedürfnis geworden sind. Dieser neue Mensch überwindet in sich den schwächlichen Bedenkenträger und eine die vitalen Instinkte lähmende Gewissenhaftigkeit. Er findet darüber zur großen Gesundheit, die den Willen frei macht, »der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurück gibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts«. Ein solcher Übermensch mit dem Willen zur Macht, sich das Leben formend zu unterwerfen, muss einst kommen und die Umwertung der Werte und die Überwindung der Minder wertigen vollenden. Darauf hoffte Friedrich Nietzsche. Denn mit ihrer Händlergesinnung und ihrem Geschäftsgeist engen sie die Hochgemuten und Vornehmen ein und bringen sie um ihre Möglichkeit, Lebensfülle zu erlangen und sie enthusiasmiert allein und mit anderen zu genießen. Alle ehema ligen sogenannten Tugenden hätten den Menschen nur betrogen und davon abgelenkt, sich selbst in kraftvoller Lebenslust und starker Lebensfreude zu verwirklichen, über sich selbst hin aus zu wachsen und zum Übermenschen, dem wahren Menschen zu werden, der alles Kleinliche, Mittelmäßige und Banale im wesenlosen Scheine erfolgreich hinter sich lässt.
Diese kolossal bürgerliche Idee des Bürgers Nietzsche begeisterte um 1900 die Bürger, die an sich und ihrer Klasse zweifelten oder verzweifelten. Wer wirklich lebendig sein wollte - Studenten, Künstler, Anarchisten, Bohemiens und deren »Kunst- oder Literaturweiber« -, folgte dem »Ruf des Lebens«, um sein Eigentum unverfälscht auszudrücken. Hingerissen von den »Lebensgluten« fanden die Authentischen, die Ehrlichen, wie von Nietzsche verheißen, zum Sinn des Lebens mit seiner ungeahnten, wunderbaren Wertfülle. Bitternisse und Krisen konnten den Wagemutigen nicht zaghaft stimmen. Das Eintauchen in alle Lebensmöglichkeiten erweiterte den Wertehorizont und führte zu überraschenden Sensationen, deren Intensität unbedingt bereicherte und den Lebenswert erhöhte. Unter solchen Voraussetzungen eines entfesselten Subjektivismus verlor die Tugend ihr Prestige. Über mehr als 2000 Jahre, die Nietzsche und seine Jünger freilich für einen allzu langen Irrweg hielten, wurde sie von Platon bis zu Cicero, Thomas von Aquin oder Baltasar Gracián und Friedrich Schiller als der beste Weg gefeiert, sich dem Wahren und Guten anzunähern, das mit dem Schönen eine Dreieinigkeit bildet. Eine Dreieinigkeit, die sich für den Christen im Dreieinigen Gott veranschaulicht, der das Wahre, Gute und Schöne verkörpert. Das Laster hängt mit der Lüge, dem Trug und der Hässlichkeit zusammen, trotz der pompa diaboli, des verwirrrenden Glanzes, mit dem die Sonne Satans das Nichtswürdige verführerisch wirken lässt.
Der vornehme Mensch, der Aristokrat vor allem, wird nach der Tugend streben und sich nicht dem Laster ergeben. So hieß es während der aristokratischen Epochen. Das Eingehen in den Willen Gottes befähige dazu, den Trug der Wirklichkeiten zu erkennen und den Traum des Lebens zu enttäuschen, um im Ewigen zuhause zu sein, in der festen Burg echter Tugend im Vertrauen auf Gott. Der Aristokrat und Ritter soll und kann Herr der Welt, seiner Umwelt werden, wenn er sich nicht von ihrem Zauber einfangen lässt. In der Nachahmung göttlicher Tugenden erhebt er sich über die Welt als Geschichte und Gesellschaft, indem er sie durchdringt und dabei gleichzeitig zu seiner vernünftigen, sittlich-schönen Vollkommenheit gelangt. Die Welt wurde von Dichtern, Erziehern und Theologen als der Schauplatz geschildert, auf dem der erhabene Held sich im ständigen Kampf während der dauernden Spannung zwischen der Tugend und dem Laster der Welt bemächtigt und über die Schwäche der Natur, seiner Natur triumphiert. Das Ich erfuhr darüber eine ungeheure Steigerung, und die ganze ideale Erziehung lief darauf hinaus, sich selbst zu erkennen und zu überwältigen. Eine bis zum Äußersten gehende Verinnerlichung, Selbstprüfung und Selbstkontrolle wurde vom Aristokraten verlangt, um Sieger über seine Leidenschaften und Triebe zu sein. »Nicht wenig Elend und Verwirrung kommt daher, dass wir durch eigene Schuld uns selbst nicht verstehen und nicht wissen, wer wir sind.« Das gab die sehr vornehme Dame und Heilige Teresa von Avila zu bedenken. Die gewünschte unausgesetzte Selbstbespiegelung schuf jene heroisch-empfindsamen Seelen, die im
16. und 17. Jahrhundert weich und sensibel auf alle Reize reagierten. Die Selbstbeschäftigung erweiterte den Seelenraum, sodass er schon durch zarteste Nuancen in Bewegung gebracht werden konnte. Das Heroenideal verlor seine martialische Härte, es wurde pretiöser und zarter, ohne doch seine feierliche Würde einzubüßen. Die weiche Seele empfing Festigkeit und Form vom Heroischen, das wiederum seine Härte durch die Seelenschönheit milderte.
Der zarten Empfindung und dem heroischen Willen entsprach ein abgemessen festliches Betragen mit einer Eleganz des Anstandes und der Sprache. Die Vollkommenheit, die perfección oder perfection, sollte eine ethische Eurhythmie bewirken, durch die eine schöne Tugend mit schönen Formen, wohlgefällig für Gott und die Menschen, in Erscheinung trat. Die Tugenden wurden durch ihr gemäße Formen ästhetisiert. Das Laster erschien als ein ästhetischer Fehler, und absichtlich eine Sünde zu begehen, das hieß die Logik, die Ethik und den guten Geschmack zu verletzen. In den äußeren Zeichen der Höflichkeit offenbare sich ein tiefer sittlicher Grund, wie noch Goethe andeutete. Bizarre Launen mochten interessant wirken. Aber war ein Aristokrat interessant, dann war er schon keine Standesperson, weil er den Rahmen seiner Gesellschaft durchbrochen hatte, innerhalb dessen die Regel galt und nicht das Recht auf private Arabesken. Die Regelmäßigkeit wollte das Persönliche nicht unterdrücken, sondern adeln. Denn die starre Form musste von jedem ganz auf seine Weise gelebt werden. Sie war nur dann starr und leblos, sobald der einzelne sie nicht mit der eigenen Würde und Persönlichkeit erfüllen konnte. Deshalb konnte Schillers Königin Elisabeth von Valois, die »schöne Seele« und große Dame, den noch schwankenden Carlos mahnen: »O Karl! wie groß wird unsre Tugend / Wenn unser Herz bei Ihrer Übung bricht.«
Die Tugenden ebnen aber auch den Weg in die Freiheit. Das Wesen der Wahrheit ist die Freiheit. Beides offenbart sich für den Christen in Gott, der den Menschen nach seinem Bilde geschaffen und ihn damit zur Freiheit berufen hatte. Die göttlichen Tugenden - Glaube, Liebe und Hoffnung - kräftigen den durch die Erbsünde verletzten Menschen bei der Bemühung, mit den menschlichen Tugenden - Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung und all ihren Verzweigungen bis zur Höflichkeit und Liebenswürdigkeit - zur Selbständigkeit zu finden und seine Unabhängigkeit von dem in mannigfachen Erscheinungen lockenden Bösen zu behaupten. Die Tugenden und die Laster - Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und seelische Trägheit - wirken als Kräfte im Drama des Lebens, dem großen Welttheater, nur über dramatische Personen. Das Leben als Schauspiel - vor Gott, dem Spielmeister - entwickelt sich über Handlungen jedes Mitspielers, der sich ständig zwischen Mächten entscheiden muss, die nur gelebt werden können: den Tugenden und den Lastern. Sie hängen unmittelbar mit seiner Lebendigkeit zusammen. Der wahre Mensch lebt nicht gefährlich, wie es der bürgerliche Ästhet Nietzsche forderte, der sich kurzsichtig und lebensscheu nicht auf die Welt als das große Buch einließ, vielmehr in Büchern nach dem suchte, was er nicht kannte: das Leben. Der Mensch, den Nietzsche als christliche Abstraktion verwarf, lebt als konkreter Mensch vielmehr ungemein dramatisch. Denn die Suche nach Freiheit kann ihn, den Irrtumsanfälligen, in Abhängigkeiten von unguten, eben bösen Kräften bringen. Sein Lebensdrama beruht auf Handlungen, die auf eigenem Urteil beruhen. Oder auch nicht, da der Mensch über die Freiheit verfügt, auf Handlungen zu verzichten oder seiner eigenen Einsicht entgegen zu handeln. Es gäbe weder Komödien noch Tragödien, verhielten sich die Einzelnen anders. Wobei die Unterlassungssünden oder das Zulassen böswilliger und ungerechter Taten anderer die schlimmsten Verfehlungen sein können.
»Eberhard Straubs Buch ist eine scharfzüngige Polemik gegen die subtile Totalökonomisierung aller Lebensbereiche und ein kundiges Plädoyer für das, was die Würde des Menschen am Ende ausmacht: seine Unverwertbarkeit.«
Ariadne von Schirach, Deutschlandradio, 30.08.2010