»Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei.« Orhan Pamuk
»Aus dem großen Stapel türkischer Romane, die jetzt zur Frankfurter Buchmesse auf deutsch erscheinen, möchte ich Ihnen aber vor allem (diesen) empfehlen. ...«
(Porträt in ZDF-aspekte, 10.10.2008)
»Zülfü Livaneli lässt die Tradition des türkischen Ostens in diesen Geschichten auf die Moderne der Megastadt Istanbul stoßen. "Glückseligkeit" ist ein Werk voll Harmonie und Dissonanzen, eine Partitur der modernen Türkei.«
(Porträt in 3sat-Kulturzeit, 2.10.08)
Ein kleines Dorf in Ostanatolien ist in Aufruhr. Ein junges Mädchen soll sterben, weil der Imam sie vergewaltigt hat. Ihr Cousin, gerade aus dem Krieg gegen die kurdische PKK zurückgekehrt, soll sie nach Istanbul bringen, um sie zu ermorden. Doch dort stoßen die beiden auf eine ganz andere Türkei. Ihre Weltbilder geraten ins Wanken ...
Drei Schicksale, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, führt Livaneli zu einer Geschichte zusammen: einen liberalen Professor aus Istanbul, den eine Midlife-Krise beutelt, einen traumatisierten Kriegsveteran und ein geschändetes Mädchen. Die 15-jährige Meryem steht im Zentrum. Sie weiß nichts von der Welt, nur dass sie als Frau alle Schuld auf sich zu nehmen hat. Bis sie erkennt, dass die Welt nicht hinter ihrem ostanatolischen Dorf endet, und ein unumkehrbarer Prozess der Emanzipation beginnt.
An der Ägäis stoßen sie schließlich aufeinander. Bei jedem von ihnen löst ihre Begegnung eine Entwicklung aus, die sie herausführt aus der Engstirnigkeit, ob sie sich nun mit religiösem Fundamentalismus, militantem Nationalismus oder pseudoliberalem Anything-goes tarnt.
Zülfü Livanelis international erfolgreicher Roman über einen Ehrenmord macht die Widersprüche der heutigen Türkei anhand einer ergreifenden Emanzipationsgeschichte deutlich.
Zum Buch:
»Zülfü Livaneli, berühmter Schriftsteller der Türkei, beschreibt in seinem Buch "Glückseligkeit" diese Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne. Das Buch und der Film dazu haben die Leute in der Türkei aufgerüttelt.«
(ARD-ttt, titel, thesen, temperamente, 19.10.2008)
»Aus dem großen Stapel türkischer Romane, die jetzt zur Frankfurter Buchmesse auf deutsch erscheinen, möchte ich Ihnen aber vor allem einen empfehlen. Aus zwei Gründen: Einmal weil er die Spaltung der türkischen Gesellschaft besonders eindrucksvoll und spannend verdichtet, zum andern weil sein Autor, Zülfü Livaneli, eine lebende Legende in der Türkei ist. ... eine wichtige Stimme seines Landes.«
(Porträt in ZDF-aspekte, 10.10.2008, ansehen bei aspekte.zdf.de)
»Zülfü Livaneli gehört zu den wichtigsten Intellektuellen der Türkei, nicht nur als Schriftsteller - er ist ein sehr populärer Musiker, arbeitet als Filmregiseur, Botschafter der UNESCO und als Politiker.
Zülfü Livaneli lässt die Tradition des türkischen Ostens in diesen Geschichten auf die Moderne der Megastadt Istambul stoßen.
"Glückseligkeit" ist ein Werk voll Harmonie und Dissonanzen, eine Partitur der modernen Türkei.«
(Porträt auf 3sat-Kulturzeit, 2.10.2008, ansehen bei www.3sat.de)
Meryems Flug
Meryem schlief den Schlaf einer Siebzehnjährigen - ein Schlummer, tief wie der Van-See. Im Traum kletterte sie splitternackt auf den Nacken des legendären Phönix und flog mit ihm davon. Wie ihr eigener schlanker Körper war auch der Riesenvogel schneeweiß. Er trug sie leicht in ruhigem Flug dahin und brachte sie sicher durch die Wolkenschleier.
Meryem hielt sich am Hals des Vogels fest, erfüllt von großem Glück. Die kühle und doch milde Luft strich ihr über Nacken und Schultern, streichelte ihre Beine, mit denen sie sich an den Vogel klammerte, und ließ sie sanft erzittern.
»Ach Vogel! Gesegneter Vogel!«, rief sie ohne Stimme.
Dies war der Vogel aus den Erzählungen ihrer Mutter, dieser hageren Frau, deren kraftvoller Blick jedermann Furcht einjagte. Von ihm hatte die Mutter nächtelang wundervoll erzählt. Endlich war er auch zu ihnen gekommen. Er schwebte vom grenzenlosen Himmel herab und setzte sich vor ihrem Haus nieder. Aus all den vielen Menschen wählte er Meryem, ließ sie aufsitzen und stieg wieder in den Himmel.
Den Erzählungen ihrer Mutter zufolge musste man ihm Milch geben, wenn er »Gak!«, und Fleisch, wenn er »Guk!« rief. Meryem wusste: Der Vogel trug einen Menschen auf seinem Nacken von einem Land zum anderen, doch durfte man nicht versäumen, ihn zu füttern. Andernfalls wurde der erhabene Vogel zornig und warf die Menschen ab. Die würden dann fallen - bei Gott - sie würden fallen und fallen, bis hinunter zu den Menschen. Meryem wusste das alles, sie kannte sich aus.
Unten glänzte tiefblau der Van-See, ein Stück weiter entfernt erahnte man die Stadt Istanbul, auch wenn sie keinen für eine Stadt charakteristischen Anblick bot. Meryem konnte sich an dieser Aussicht gar nicht sattsehen.
In diesem Augenblick hörte sie den Vogel »Gak!« rufen. »Gak!«, schrie er krächzend.
»Gesegneter Vogel, wo soll ich denn hier Milch für dich auftreiben«, dachte sie bei sich. »Wen soll ich inmitten dieses auf tausend Säulen ruhenden Himmels melken, damit du deine Milch bekommst?«
Der Vogel machte wieder »Gak!«
Da beschwerte sich Meryem mit lauter Stimme: »Woher soll ich Milch für dich bekommen? Die gelbe Kuh mit den prallen Eutern, die ich jeden Morgen melke, ist doch nicht hier. Ich kann dir keine Milch beschaffen.«
Der Riesenvogel schrie noch lauter und Meryem bekam mit einem Mal große Angst. Denn bei seinem dritten Ruf nach Milch hatte er angefangen zu schaukeln, als wollte er das Mädchen abwerfen. »Bitte, bitte!«, flehte Meryem den Vogel voller Angst an. »Kann ich dir die Milch nicht nach unserer Rückkehr auf die Erde reichen? Dann will ich die gelbe Kuh melken und dir so viel Milch geben, wie du magst.«
Da kam Meryem plötzlich ein Gedanke: Die gelbe Kuh hatte große dralle Euter und sie selbst hatte kleine Brüste. Als sie daraufhin eine ihrer Brüste zusammenpresste, traten aus der Warze Milchtropfen heraus. Sie beugte sich vor, drückte ihre Brust zusammen und benetzte den Kopf des Vogels mit ihrer warmen Milch. Unaufhaltsam nahm der Milchstrom zu. Zunächst waren es nur Tropfen, dann ein feines Rinnsal, doch bald floss die Milch wie aus einer Quelle.
Der heilige Vogel trank die Milch, die über seinen Kopf rann, und beruhigte sich.
Meryem flog weiter durch die Lüfte, die ihren Körper streichelten, sie fühlte sich ganz leicht und befreit, als wäre sie selbst eine dieser sich auftürmenden Wolken.
Später hörte sie den Vogel »Guk!« rufen.
»Ach, lieber Vogel, woher soll ich im siebenstöckigen Himmel Fleisch für dich bekommen?«
Wieder verlangte der Vogel Nahrung. Da fing Meryem erneut an zu klagen und zu flehen, denn dieses Mal sah sie keinen Ausweg. Der Vogel schrie so hässlich, so durchdringend »Guk!«, dass Himmel und Erde erzitterten, und Meryem fürchtete, die Welt ginge unter. »Du schöner Vogel, heiliger, gesegneter Vogel«, begann sie zu flehen. »Wirf mich nicht ab!«
Was sie befürchtete, trat nicht ein; der Vogel warf sie nicht ab. Stattdessen flogen sie auf den Gipfel eines Berges zu, der spitz wie eine Derwisch-Mütze in den Himmel ragte. Der Berg war so hoch, dass er von Wolken umgeben war. Sein Gipfel erhob sich als ein schroffer Fels aus dem Wolkenmeer. Der Vogel trug Meryem zur Spitze des steil abfallenden Gipfels und setzte sie dort ab. Die scharfen Felskanten schnitten sich in ihren Rücken, ihr nackter Leib zitterte vor Kälte und Furcht wie trockenes Laub im Wind.
Sie sah, dass sich der eben noch schneeweiße Kopf des Phönix mit einem Mal veränderte. Er wurde ganz dunkel und überall auf seinem Kopf sprossen rabenschwarze Haare hervor. Sein Schnabel verwandelte sich in eine lange, blutige Zange. Mit abstoßender Stimme, die Himmel und Erde widerhallen ließ, kreischte er: »Guk!«
Andere Vögel suchten das Weite. Und noch einmal rief er: »Guk!« Voller Furcht erkannte Meryem, dass er nach Fleisch rief, dass er ihr Fleisch wollte. »Erst hat er meine Milch getrunken, jetzt will er mich verschlingen.«
Dann sah sie, wie er seinen blutigen Schnabel zwischen ihre Beine steckte, an diesen unanständigen, schmutzigen Ort der Sünde. Und sie begann sich einzureden: »Ich träume. Das alles passiert nur in meinem Traum. Alles ist nur Einbildung!« Doch selbst dieser Gedanke konnte sie nicht beruhigen.
Mit aller Kraft versuchte sie, den schwarzen Kopf wegzudrücken, ihn von der Scham zwischen ihren Beinen zurückzuschieben. Doch der Vogel war sehr kräftig, er bemerkte die Hände des Mädchens gar nicht. Er fuhr fort, Fleischstücke aus ihr herauszureißen.
Dann verwandelte sich der Kopf des Vogels in den eines Mannes mit schwarzem Haar. Meryem erkannte in ihm ihren bärtigen Onkel und bat ihn: »Onkel, gib zurück, was du mir genommen hast!« Da gab der Vogel ihr die Teile ihres Körpers zurück, stieg in den Himmel auf und verschwand. Meryem, nun ganz allein auf dem Berg, begann die Teile wieder an ihren angestammten Stellen einzufügen. Das Fleisch wuchs sogleich wieder an.
Plötzlich erwachte Meryem und dachte: »Ich will eigentlich gar nicht wach werden! Nie mehr möchte ich aufwachen!«
Sie fürchtete sich nicht vor ihrem Traum; das wirkliche Leben ängstigte sie mehr.
Meryem öffnete ihre Augen, über die in der kleinen Stadt viel geredet wurde. Wegen dieser Augen, in denen sich von Hellbraun bis Grün tausendundein Farbtöne brachen - so eigenartig, wie man es nie zuvor gesehen hatte -, wurde sie von manchen bewundert, von vielen jedoch angefeindet.
Zu Lebzeiten pflegte ihre Mutter zu sagen: »Die Augen dieses Mädchens stellen die Sonne in den Schatten.«
Sie presste beide Hände ganz fest auf ihre Scham, sodass es sie schmerzte. Glücklicherweise war sie erwacht, denn so konnte sie ein wenig der Angst entfliehen, die ihr fast den Verstand raubte. Den Onkel hatte sie verdrängt, sie erinnerte sich nur noch an den Vogel. Sie erinnerte sich nicht mehr, wie sie zur Hütte im Weinberg außerhalb der kleinen Stadt gegangen war, wie sie ihrem Onkel das Essen gebracht hatte, wie sich der große, kräftige Mann auf sie gestürzt und sie vergewaltigt hatte, wie sie ohnmächtig geworden war. Und sie hatte vergessen, wie sie - nachdem sie wieder zu sich gekommen war - aus dem Weinberghäuschen wie von Sinnen nach Hause gelaufen war. All das hatte sie hinter dichten Nebelschleiern verborgen.
Auf dem Rückweg lief sie durch den Friedhof, wo Dornen ihr Arme und Beine zerstochen hatten. Nachdem das Blut an ihren Beinen getrocknet war und sie wie ein verletzter Vogel mit den Flügeln um sich zu schlagen begonnen hatte, wurde sie von zwei Burschen gefunden, die sie über den Markt des Städtchens nach Hause führten. Daraufhin breitete sich dort eine große Stille aus, und ihre Familie, die sich scheute, über das Vorgefallene zu sprechen, sperrte sie in ein finsteres Abteil im Keller ein.
Nach der Vergewaltigung in der Gartenhütte beim Weinberg hatte sie zu niemandem ein Wort gesagt, und niemand konnte herausfinden, wer die abscheuliche Tat begangen hatte.
Meryem war sich zudem nicht sicher, ob sie nur geträumt oder ob das Verbrechen wirklich stattgefunden hatte. Sie war verwirrt und wusste nicht mehr genau, was sie getan hatte, nachdem sie wieder zu sich gekommen war. Alles war durcheinander, nichts ergab einen Sinn. Sie begriff es nicht. Sie hatte den Vorfall in unerreichbare Tiefen ihres Gedächtnisses verbannt, doch niemand kann seine Träume beeinflussen.
Der Keller, in dem sie sich auf einer sehr dünnen Matratze ausgestreckt hatte, lag im Halbdunkel. Nur durch die Ritzen der alten Tür und durch ein kleines Loch in der Decke drang vom Hof Licht herein. Der schwache Schein reichte aus, um die ausrangierten Packsättel, die Pferdesättel, die Halfter, die Pferdegeschirre, die Worfschaufeln in der Ecke, die auf den Regalen aufgeschichteten Säcke, den Beutel mit dem trockenen Fladenbrot, die getrockneten, zwischen sauberen Tüchern gelagerten Traubenmusfladen und die Getreidesäckchen erkennen zu können. Doch sie wusste ohnehin aus dem Gedächtnis, wo alles stand.
Meryem hatte ihr ganzes Leben in dieser kleinen, heruntergekommenen Stadt am Ufer des Van-Sees verbracht, die eigentlich eher ein Dorf war. Hier kannte sie jedes Haus, jeden Baum, jeden Vogel. Sie kannte sich aus in den Höfen der zweigeschossigen, noch von den Armeniern stammenden Häuser und in der Scheune für das Korn. Auch das einfache Bad für die rituelle Waschung, der in die Erde eingelassene Backofen, der Stall, die Hühnerschar, der Garten und das Pappelwäldchen waren ihr vertraut. Sie hätte selbst mit verbundenen Augen alles finden können, als hätte sie es mit eigener Hand dort abgestellt. Das Holztor des Hauses hatte zwei Türklopfer, einen großen und einen kleinen. Wenn Männer zu Besuch kamen, benutzten sie den großen Klopfer, waren die Besucher Frauen, klopften sie mit dem kleinen. So hatten die Frauen im Haus Gelegenheit zu verschwinden oder sich zu verschleiern, sobald sich männliche Gäste ankündigten.
Da Meryem nie gesehen hatte, was hinter dem Hügel lag, kam ihr manchmal der Gedanke, dass sie die Welt nicht kannte. Aber das bedauerte sie nie, denn sie hätte ja jederzeit in die Stadt, nach Istanbul gehen können. In Gesprächen sagten die Leute gelegentlich: »Er ist nach Istanbul gegangen« oder »Er ist aus Istanbul gekommen«. Daher war es für Meryem klar, dass Istanbul direkt hinter dem nächsten Hügel liegen musste. Wenn sie eines Tages gemeinsam mit der Herde dort über den Hügel ziehen würde, müsste sie wohl gleich in die goldene Stadt gelangen, von der zu schwärmen die Leute gar nicht genug bekommen konnten.
Doch dann fiel ihr ein, dass sie nicht nach Istanbul gehen konnte. Weder zum Brunnen, wo sie sich immer gern aufhielt, und auch nicht zum Backhaus auf dem Markt. In den wunderbar duftenden Stoffladen, zu dem die Erwachsenen sie mitgenommen hatten, konnte sie keinen Fuß setzen, und sogar der Hamam, in dem sie gewöhnlich einmal die Woche einen ganzen Tag verbrachte, war ihr verschlossen. Denn sie saß hier in einem Gefängnis. Der Keller war mit einer Eisenstange verriegelt. Ihre Familie hatte sie hier eingesperrt.
Nun ging sie auch nicht mehr mit ihren Tanten, Cousinen und anderen weiblichen Verwandten gemeinsam zum Wasserlassen. Im Sommer trafen sich die Frauen meistens nach dem Abendessen und hockten sich in einer Ecke des Gartens auf den Boden. Dabei führten sie ihre Gespräche ohne Unterbrechung fort. Einmal hatte ihre Tante, nachdem alle bereits fertig waren, Meryems Plätschern jedoch nicht enden wollte, sich darüber mokiert: »Bei Gott! Sie ist ja noch so jung. Schaut euch nur diese Meryem an, die hat ja eine Menge zu pinkeln.« Ein Gefühl der Abscheu gegen ihre Nichte, das sie immer zu verbergen suchte, trat selbst bei dieser Gelegenheit zutage. Fatma, die Tochter der Tante, rief darauf, als wollte sie Meryem und deren Mutter verteidigen: »Nun ist es aber genug! Was hat denn das mit der Jugend zu tun?«
Meryem selbst hatte keine Mutter mehr. Die arme Frau war ein paar Tage nach der Geburt des Mädchens gestorben. Trotz aller Proteste der Hebamme Gülizar und deren Befürchtungen, sie sei nicht mehr zu retten, hatte sich Meryems Mutter noch tagelang behandeln lassen. Sie war an den Füßen aufgehängt worden, hatte sich von Gesundbetern besprechen lassen und unter den Heilmitteln der alten Kräuterweiber gelitten, zu denen sie auf Geheiß der Leute gegangen war, deren Rat sich manchmal als gut, zuweilen auch als schlecht erwies. Am Ende war sie friedlich entschlafen. Man begrub sie außerhalb des Ortes auf dem von Schlangen und anderem Getier bewohnten Friedhof, den keiner betrat, weil das Unkraut dort mannshoch stand.
Im zweigeschossigen, steinernen Haus streckten sich nachmittags Meryems Tanten und ihre Stiefmutter auf den Betten aus. Sie stützten den Kopf auf den angewinkelten Arm und unterhielten sich stundenlang. Den Frauen ging der Gesprächsstoff nie aus. Weil sie alle - außer der Zwillingsschwester von Meryems Mutter - ziemlich dick waren und sich ihre Leibesfülle nicht bändigen ließ, wurden sie zu Wesen ohne klar erkennbare Gestalt.
Meryem konnte nun weder ihren Unterhaltungen und Lästereien zuhören, noch mit ihnen zum Wasserlassen gehen. Sie durfte nicht einmal mehr mit ihnen zusammen in der Küche essen.
Von den Fischen aus der Flussmündung in Erci¸s bekam sie nun auch nichts mehr. Man zog dort feine Meeräschen heraus, die so gut schmeckten, dass man nie genug davon bekommen konnte. Diese Fische stampften die Frauen in Kanister, salzten sie und lagerten sie ein Jahr. Meryem war jetzt von allem abgeschnitten, was auf der Welt Spaß machte.
Döne, ihre noch junge Stiefmutter, brachte ihr ab und zu Essen und erlaubte ihr, im Garten ganz allein eine stille Ecke aufzusuchen, um ihre Notdurft zu verrichten. Das war alles. Meryem hatte keine andere Verbindung mehr zur Welt. Wie lange man sie hier noch festzuhalten gedachte, was man mit ihr anfangen wollte, und welches Urteil man über sie fällen würde, das alles konnte sie nicht ermessen. Sie hatte Döne, die nicht viel älter war als sie selbst, ein paar Mal danach gefragt, aber die hartherzige junge Frau sagte nur: »Du kennst doch die Strafe für dein Vergehen.« Mit diesen Worten hatte sie Meryem nur noch mehr in Angst versetzt. Am folgenden Tag dann hatte sie im Gespräch Istanbul erwähnt.
Ihren Vater hatte sie, seit dieses Unheil über sie hereingebrochen war, nicht mehr gesehen. Er war ohnehin sehr schweigsam und wortkarg. Weil im Haus das Wort des Onkels galt, durfte niemand in seiner Anwesenheit die Stimme erheben. Der Onkel war nicht nur im Haus und in der kleinen Stadt hoch geachtet. Die Besucher brachten ihm Ehrengaben und Geschenke, küssten seine Hand und erwiesen ihm größte Hochachtung. Dieser strenge, zornige Onkel, der alle in Furcht versetzte, rezitierte Verse aus dem heiligen Koran, legte Berichte über das Verhalten des Propheten aus und wies seinen Besuchern so den Weg für ihr eigenes Leben. Da er Scheich eines Derwischordens war, hatte er sogar Anhänger im nahen Istanbul.
Während sie vor Angst zitternd im Keller saß, hörte sie in der Erinnerung manchmal wieder die wütende Stimme ihres Onkels: »Sperrt diese schamlose, ehrlose, unmoralische Hure ein!« Daraufhin zitterte sie noch mehr.
Die Ehre der Familie sei ihretwegen keinen Pfifferling mehr wert, keiner von ihnen traue sich noch unter die Menschen im Städtchen, sagte ihr Döne.
Meryem fragte einfältig: »Was geschieht denn mit den Mädchen, denen das passiert ist?« Darauf beschied ihr Döne: »Sie werden nach Istanbul geschickt. Erst vor kurzem sind einige weggegangen.« Meryems Angst legte sich ein wenig. Das also war ihre Strafe. Doch was sollte dieser Blick Dönes, der ihr zu sagen schien: »Mädchen! Diese Strafe hast du verdient.« Der kalte, an eine Schlange erinnernde Ausdruck in Dönes Augen, die Meryem verabscheute wie einen bösen Geist, ließ ihr jedes Mal das Blut gefrieren. Bevor Döne sie allein ließ, sagte sie noch: »Nun ja, natürlich gehen nur die nach Istanbul, die sich nicht selbst aufhängen! Es gab auch Mädchen, die haben einen Strick genommen und die Sache ein für allemal selbst erledigt.«
Nachdem Döne gegangen war, schaute Meryem mit Schaudern auf die gedrehten Seile, auf die Stapel aufgerollter Stricke. Hatte man sie hier eingesperrt, damit sie sich aufhängen sollte? Die Holzstreben und Querbalken an der Decke des Kellers und die Stricke auf dem Boden waren dazu wie geschaffen. Wenn man sich erhängen wollte, war dieser Keller der geeignete Ort dafür.
Je länger sie nachdachte, desto besser verstand sie die entsetzliche Bedeutung des Gesprächs, bei dem Döne listig gelächelt hatte. Sie hatte vermutlich mit Meryems Vater über die Angelegenheit gesprochen. Als junge Ehefrau hatte sie großen Einfluss auf ihren Mann.
Besonders, weil sie ihm noch zwei Kinder schenkte, nachdem seine zweite Frau sich als unfruchtbar erwiesen hatte.
Ihre Familie hielt es also für angemessen, wenn Meryem die Sache ohne viel Lärm selbst bereinigte. Später würde alles langsam in Vergessenheit geraten. Denn wer würde sich hier schon erheben und Aufklärung verlangen, weil sich ein junges Mädchen umgebracht hatte. Mit falschem Mitleid erzählten sie immer wieder die Geschichte zweier Mädchen, die sich erhängt hatten.
Sie hob das zusammengerollte Seil hoch, das in der Ecke lag. Der Strick war ganz rauh; er war alt und abgenutzt und an manchen Stellen waren die Fasern gerissen. Dort standen sie unverbunden aus dem Seil heraus. Sie betrachtete die geschwärzten Deckenbalken des Kellers. Wie man vorging, wusste sie, denn man hatte es ihr zuvor erklärt. Sie müsste ein Ende des Stricks über den Balken werfen, dann auf der anderen Seite herunterziehen und festbinden. Schließlich müsste sie auf den Holzklotz steigen, das lose Ende zu einer Schlinge binden und den Kopf hindurchstecken. Nun bliebe nur noch, den Klotz mit einem Tritt umzuwerfen. Im ersten Augenblick würde ihr Hals ein wenig wehtun, doch nach ein oder zwei Minuten wäre alles vorbei. Der Tod ähnelt dem Schlaf. Ein Schlaf, in dem sie dem schrecklichen Riesenvogel endlich nicht mehr begegnen würde. »Können Tote träumen?« Über diese Frage dachte sie eine Weile nach. Da kein Verstorbener je zurückgekehrt war, wusste man es nicht. Vielleicht sah ihre selige Mutter sie gerade im Traum. Und vielleicht war ihre Mutter sehr zornig, weil sich ihre Tochter erhängen wollte.
Nachdem sie den Strick einige Zeit in den Händen gehalten hatte, schleuderte sie ihn zu Boden. »Nun verschwinde aber!«, rief sie. Etwas in ihrem Unterbewusstsein ließ sie so befreit aufatmen, dass sie kichern musste, weil sie den armen Strick zu verschwinden geheißen hatte.
»Gräme dich nicht, Mutter«, sagte sie, »du siehst ja, dass ich es nicht mache.«
Später wurde ihr klar, was sie gerettet hatte: Es war der Gedanke an Istanbul! Wie Döne sagte, wurden die Mädchen dorthin geschickt, wenn sie nicht Selbstmord begingen. Das hieß, auch sie würde die riesige, großartige Stadt hinter dem kahlen Hügel sehen. Einen Augenblick lang wollte sie sich gleich auf den Weg machen.
Doch inzwischen war es fast Abend geworden und ihr Onkel hatte diesbezüglich noch keine Entscheidung getroffen. An Flucht dachte sie erst gar nicht. Denn dem Onkel dienten allwissende Dämonen, die ihm alle Geheimnisse verrieten.
Nach Meinung ihres Onkels waren alle Menschen Sünder, aber die Frauen waren am schlimmsten. Als Frau auf die Welt gekommen zu sein, war Grund genug, um bestraft zu werden. Frauen waren Teufel, unanständig und gefährlich. Schon die Urmutter Eva hatte die Menschen ins Verderben gestürzt. Deshalb muss man dafür sorgen, dass sie immer ein Kind im Bauch haben und die Schläge eines Stocks auf dem Rücken spüren. Denn die Frauen sind das Unglück des Menschengeschlechts. Weil Meryem solche Reden während ihrer ganzen Jugend gehört hatte, fand sie es widerwärtig, eine Frau zu sein, und fragte: »Lieber Gott, warum hast du mich nur als Frau erschaffen?«
Als sie noch ein mageres Kind war, mit Armen und Beinen dürr wie Stecken, war ihr alles leichter gefallen. Sie spielte mit den anderen Kindern im Staub und Dreck des Dorfes, durch das ein dünnes, schmutziges Bächlein rann. Hier gab es viele Lehm- und Steinhäuser, wo zerbrochene Räder von Pferdewagen an den Gartenmauern lehnten. Wie ein Pferd rannte Meryem von früh bis spät draußen herum. Manchmal gingen sie auch zum Strand des unendlich großen, strahlend blauen Sees, standen knietief im Wasser und spritzten einander nass. Mit ihrem vier Jahre älteren Cousin Cemal, mit dessen bestem Freund Memo und den anderen Mädchen und Jungen klatschten sie Schlamm an die Wände. Sie jagten einander die Spielzeugautos ab, die sie aus alten Drähten gebastelt hatten, kletterten steile Mauern hinauf und hoben Vogelnester aus.
Doch als sich ihre Körperformen rundeten und die Scham zwischen ihren Beinen zu bluten begann, begriff sie, dass sie niemals wie Cemal oder Memo sein könnte. Die beiden waren ordentliche Menschen, sie dagegen war schuldbeladen. Sie musste sich verstecken, sich bedecken; sie musste dienen und wurde bestraft. Daran gab es nichts zu rütteln.
Deshalb verhüllten sie Meryems Kopf. Sie begann ihre Strafe zu verbüßen, als sie ihre dicken Kleider nicht einmal an heißen Sommertagen ablegen durfte und sie unter ihrem Kopftuch bei fünfzig Grad in der Sonne schwitzte.
An dem Tag, als sie zur Frau wurde, begriff sie, warum sie keine Mutter mehr hatte. Sicher war auch ihre Mutter bestraft worden; deshalb war sie auch bei der Geburt ihres Kindes gestorben.
Jetzt erlitt sie eben die Strafe dafür, dass sie eine Frau war. Es war immer die sündige Scham, die den Frauen diese Schwierigkeiten machte. Meryem wusste, dies war die Ursache der Sünden, für die sie bestraft wurde. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie darum gebetet hatte, dass ihre Scham verschwinden möge. Sie wünschte sich inständig, eines Morgens ohne ihre Scham aufzuwachen. Doch wenn sie am Morgen erwachte und feststellte, dass dieses abstoßende Organ noch immer an seinem Platz war, erfasste sie tiefe Hoffnungslosigkeit. Seit sie ganz klein war, drohte ihr die Tante damit, wenn sie ins Bett gemacht hatte, Meryem an der Scham zu verbrennen. Ja, als sie es einmal nicht einhalten konnte, hatte sie sich tatsächlich mit einem Streichholz genähert, doch im letzten Augenblick von ihr abgelassen. Als Erwachsene sollte sie noch oft bedauern, dass die Tante sie damals nicht angezündet hatte.
Die Sünden, die sie als sehr kleines Kind begangen hatte, ließen bereits künftige Schicksalsschläge erwarten. Denn was sie beim Mausoleum von ¸Seker Baba gemacht hatte, war der Auslöser für alles Weitere.
Das Grab ¸Seker Babas lag am Hang des Hügels. Jedermann besuchte es, brachte dort seine Sorgen vor, betete und befestigte einen Stoffstreifen an den Zweigen der Bäume. Als Meryem noch ein sehr kleines Mädchen war, hatten ihre Verwandten sie dorthin mitgenommen. Damit es nicht so schnell ermüdete, setzten sie das damals vier oder fünf Jahre alte Kind bei dem beschwerlichen Aufstieg auf einen Esel. Nach der Ankunft am Grab ¸Seker Babas setzten sich alle auf den Boden, breiteten die Arme aus und schlossen die Augen. Da Meryem nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, erkundigte sie sich bei ihrer Tante, die sie mit einem »Psst!« zum Schweigen bringen wollte und ihr leise sagte: »Wir schlafen jetzt.« Sie zeigte auf die anderen, die mit geschlossenen Augen beteten. »Schließ deine Augen und schlafe auch!«
Meryem hatte sich darauf ebenfalls hingekauert, ihre Hände wie die der anderen zum Himmel erhoben und die Augen geschlossen. Doch konnte sie nicht einschlafen, sie musste nämlich pinkeln. Sie wand sich in der Hocke, stöhnte und versuchte, es zurückzuhalten.
Da öffnete sie die Augen und schaute sich nach den Leuten um. Alle hatten die Augen geschlossen und wirkten wie entrückt. Nun konnte sie es nicht mehr zurückhalten und ihre Beine wurden klatschnass. Wieder schaute sie sich verstohlen um, versuchte festzustellen, ob jemand etwas bemerkt hatte. Gott sei Dank, alle schliefen, keiner hatte es gesehen. Jetzt endlich konnte auch sie wie die anderen in aller Ruhe einschlafen. Sie hielt ihre geöffneten Hände zum Himmel, schloss die Augen und gab sich ihren Träumen hin.
Nach einer Weile sagte ihre Tante: »Los jetzt, wir gehen!« Meryem konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob sie wirklich geschlafen hatte. Als ihre Tante sie wieder auf den Esel setzte, bemerkte sie, was vorgefallen war. »Kind, was ist denn das?«, rief sie. »Hast du keinen anderen Platz gefunden?« Später hatte sie ihr dann lang und breit erzählt, was denen widerfährt, die beim Besuch des Mausoleums von ¸Seker Baba ihr Geschäft nicht einhalten können. Sie erklärte ihr auch, dass sich zwischen den Beinen dieser Mädchen Wunden bilden. Meryem, deren Beine auf dem Rückweg bei jedem Schaukeln des Sattels brannten, war durch die Erzählung ihrer Tante vollkommen verängstigt, sodass sie auch zu Hause lange Zeit nicht wieder zu sich kam. Sie befürchtete, dass ihr die bösen Geister jederzeit etwas antun könnten, dass der schwarze Mann kommen und sie mitnehmen könnte und sich an ihrer schändlichen Scham Wunden öffnen würden. Am Ende waren ihre Augen vor lauter Weinen blutunterlaufen.
Von diesem Tag an war ihr klar: ¸Seker Baba würde sie wegen der unanständigen, ungehörigen Scham bestrafen, würde ihr übel mitspielen. Und so kam es schließlich auch. Den Hort der Sünde hatte der Vogel mit dem Schnabel weggepickt. Und sie war in den Keller gesperrt worden, weil sie mit der schwersten Strafe belegt werden sollte. Würde sie nach Istanbul geschickt werden, wie die anderen Mädchen, oder würde sie eine noch schlimmere Strafe erhalten? Alles hing von der Entscheidung ihres Onkels, des Familienvorstands, ab.
Selbst Meryems ausgeglichener und verträglicher Vater, der sich um die Landwirtschaft kümmerte, fürchtete sich sehr vor seinem älteren Bruder. Er verehrte den Scheich, seinen Bruder, der vom Alter und vom geistlichen Rang her weit über ihm stand. Obgleich er ein erwachsener Mann war, traute sich Meryems Vater nicht in Anwesenheit seines Bruders zu rauchen. Traf er ihn zufällig mit einer Zigarette in der Hand an, steckte Meryems Vater die Zigarette in die Hosentasche oder drückte sie in seiner Handfläche aus. Da der Onkel sich mit seinen Gefolgsleuten oder mit religiösen Angelegenheiten beschäftigte, ruhte die Verwaltung der nicht sehr zahlreichen Felder der Familie auf den Schultern von Meryems Vater. Die Ernte von den Äckern der Teilpächter füllte die Speicher des Hauses, und um all die Tiere, Hirten, Pächter und Tagelöhner sorgte sich Tahsin A¢ga.
Das noch von den Armeniern stammende Wohnhaus war groß. Daher konnte die ganze Familie zusammen darin wohnen. Früher gehörte das Haus einem Armenier namens Ohannes, der hilfsbereit und sehr beliebt war. Eines Tages waren Soldaten in die Kleinstadt gekommen und hatten allen Armeniern befohlen, sich unterhalb der Stadt einzufinden. Sie durften nur so viel Gepäck mitnehmen, wie sie tragen konnten. Weinend, klagend und verzweifelt folgten die Armenier dem Befehl. Sie warfen noch einen letzten Blick auf die Stadt und gingen fort. Niemand hat sie jemals wieder gesehen oder etwas von ihnen gehört. Keiner kehrte zurück. Man erzählte sich, die Soldaten hätten sie weit in die Ferne geführt. Über dieses Thema wurde nur flüsternd gesprochen. Manche Armenier gaben ihren wertvollen Besitz ihren muslimischen Nachbarn zur Aufbewahrung. Doch auch nach Jahrzehnten war keiner zurückgekehrt.
In diesem Zusammenhang gab es im Dorf noch eine andere seltsame Besonderheit, denn es wurde getuschelt, dass einige alte Frauen im Dorf eigentlich Armenierinnen seien. Meine Tanten mütterlicher- wie väterlicherseits besprachen in ihren endlosen, schläfrigen Unterhaltungen nach dem Essen, welche der alten Frauen ursprünglich aus armenischen Familien stammten. Sie erzählten, dass einige Familien, weil sie nicht wussten, was aus ihnen werden sollte, ihre Töchter ihren muslimischen Nachbarn anvertraut hatten, als sie das Dorf verlassen mussten. Die muslimischen Familien änderten die Namen der Mädchen, die Ani oder Anu¸s hießen, in Saliha oder Fatima, zogen sie wie muslimische Mädchen auf und verheirateten sie schließlich. In der kleinen Stadt wurde darüber gestritten, ob es richtig war, dass diese Mädchen, da sie ja nie zum Islam übergetreten waren, nach muslimischem Ritus geheiratet hatten und noch viel wichtiger: ob man sie auf einem muslimischen Friedhof beerdigen durfte. Beim Totengebet für eine dieser Frauen fragte der Vorbeter die Gemeinde: »Wie hat sich die Verstorbene verhalten? « Darauf bezeugten alle wie aus einem Mund: »Sie war ein guter Mensch!« Der Geistliche sagte, »lasst uns für das Seelenheil der Verblichenen beten«, und begann mit dem Gebet. Auch die Gemeinde betete. Möglicherweise sprachen muslimische Männer das Totengebet für eine christliche Frau. Für eine Frau und noch dazu eine Christin. Das war eigentlich mehr, als man verkraften konnte.
Nachdem die Armenier weggebracht worden waren, richteten sich die Muslime in deren Häusern und Werkstätten ein und übernahmen ihre Felder. Das Haus, in dem Meryems Familie wohnte, war eines der größten in der Stadt. Meryem war lange in dem falschen Glauben, ihr Urgroßvater, der große Pehlivan Ahmet, habe das Haus durch seiner Hände Arbeit erworben. Er war nämlich in der ganzen Gegend für seine ungewöhnliche Kraft bekannt. Die Geschichten über ihn waren längst zu Legenden geworden. In Meryems Lieblingsgeschichte, die sie gar nicht oft genug hören konnte, wird erzählt, wie Urgroßvater Ahmet in seiner Kindheit sehr wütend wurde, weil seine Mutter den Rahm auf der Milch meistens seinem Bruder gab. Er hatte sich die Sache sehr zu Herzen genommen, zeigte es aber nicht. Eines Tages war seine Mutter nicht zu Hause, da holte er den Esel aus dem Stall, hob ihn mit beiden Händen hoch und stellte ihn auf das Dach des zweigeschossigen Hauses. Als die Eltern vom Feld nach Hause zurückkehrten, sahen sie den Esel auf dem Dach stehen. Sie wussten nicht, wie sie ihn wieder herunterholen sollten. Da Ahmets Mutter seine enorme Kraft kannte, bat sie ihn ganz verzweifelt, den Esel wieder herunterzuheben. Ahmet jedoch lachte nur und sagte: »Wer den Rahm isst, der soll auch den Esel herunterholen. « Hier endet die Geschichte, über die alle herzlich lachten. Die kleine Meryem jedoch glaubte, der Esel stünde noch immer auf dem Dach. Deshalb schaute sie jedes Mal hinauf, wenn sie in den Garten trat. Erst als sie größer war, begriff sie, dass ihr Haus nicht das Haus aus der Erzählung war.
Einmal hatte Meryem ihre Tante gefragt, ob denn alle diese Geschichten wahr seien. Die Tante verneinte; alles - besonders die Sache mit den Armeniern - sei erfunden. Dass die Armenier eines Tages verschwunden waren, führte sie auf ein Wunder zurück. An einem Tag im Februar habe ein furchtbarer Sturm in der Stadt gewütet. Der verrückt wehende Wind habe Minarette umgestürzt, Bäume entwurzelt und Dächer abgedeckt. Doch das Unbegreifliche an diesem Sturm sei gewesen, dass er die Armenier in den Himmel hinaufgewirbelt habe. Gottes Ratschluss ist unerforschlich: Ein himmlischer Wind hatte auf wunderbare Weise die Muslime in der kleinen Stadt verschont, alle Armenier jedoch, egal ob Mann, Frau oder Kind, in den Himmel hinaufgeweht. Vielleicht waren sie Gottes geliebte Kinder und wie ihr Prophet Jesus - Friede sei mit ihm- in den Himmel aufgefahren.
Meryem gefiel die Erklärung, wonach die Armenier in den Himmel aufgefahren waren, besser. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie die armenischen Mädchen im Himmel herumspazierten. Die Eltern saßen auf Wolken und ermahnten ihre Kinder, die fröhlich im Blau des Himmels umherflogen.
Obgleich der größte Teil der Familie in Ohannes' Haus wohnte, trafen die Kinder ihren Onkel tagsüber nie im Haus an. Und das war gut so. Der Onkel benutzte das Häuschen im Weinberg etwas außerhalb der Stadt, um Besucher zu empfangen, die ihm Geschenke brachten. Manchmal zog er sich dorthin zurück und versenkte sich ganz allein in die Anbetung Gottes. An solchen Tagen brachten ihm die Kinder in einem mehrstöckigen Behälter das Essen. Selbst Meryems Vater bekam seinen älteren Bruder nur zu den Gebetszeiten in der Moschee zu Gesicht.
Wenn nach dem Abendgebet auf dem Boden zum Essen gedeckt wurde, aßen nur die Männer. Die Frauen standen dabei. Später aßen die Frauen dann die Reste in der Küche. Der Onkel ärgerte sich sehr, wenn während des Essens gesprochen und so die Mahlzeit in die Länge gezogen wurde. Seinem religiösen Verständnis nach war das Essen ein leibliches Vergnügen, weshalb man diese unverzichtbare Sache in möglichst kurzer Zeit hinter sich zu bringen hatte. Aus diesem Grund wurden die Suppen glühend heiß gelöffelt, danach stopfte man hastig Fleisch und Reis in sich hinein, und die Baklava zum Abschluss waren, ehe man sich versah, wieder von der Tafel verschwunden. Nach dem Essen war es bald Zeit für das Nachtgebet: Meryems Onkel als Vorbeter, ihr Vater, Tahsin A¢ga, und ihr Cousin Cemal stellten sich hintereinander auf und verrichteten das Gebet. Nur in den Nächten des Ramadan gingen die Männer zu besonderen Gebeten in die Moschee.
Nachdem seine Frau bei der Geburt von Meryem, ihrem ersten Kind, gestorben war und sich herausstellte, dass seine zweite Frau unfruchtbar war, wurde Tahsin A¢ga über viele Jahre nicht mehr Vater. Döne, die er später geheiratet hatte, schenkte ihm kurz hintereinander zwei Kinder, doch waren die noch sehr klein. Meryems Onkel dagegen hatte drei Töchter und zwei Söhne. Sein ältester Sohn Yakup war vor zwei Jahren mit seiner Frau Nazik und seinen zwei Kindern nach Istanbul gezogen. Wenn sie alle Jubeljahre mal etwas von sich hören ließen, sagte man, es gehe ihnen gut und sie führten ein reiches Leben in der goldenen Stadt Istanbul. Weil sein jüngerer Bruder Cemal zum Wehrdienst in den Südosten des Landes einberufen worden war und man seine älteste Schwester Ay¸se und die mittlere Schwester Hatice verheiratet hatte, war es recht leer im Haus geworden.
Angeblich war Cemal bei einer Kommandoeinheit im Gabar- Gebirge stationiert und kämpfte gegen die Kurden. Sein Vater versuchte ihn mit Gebeten zu beschützen; er befahl ihn dem Schutz des Allmächtigen an. Da Radio und Fernsehen, wie alle Erfindungen der Ungläubigen, im Haus verboten waren, erfuhr man die Namen der in den täglichen Gefechten gefallenen Soldaten nicht. Außer den gelegentlichen Briefen erreichten die Familie keinerlei Nachrichten von Cemal. [...]
Zülfü Livaneli wurde 1946 in Konya-Ilgın (Türkei) geboren. In den 70er Jahren war er wegen seiner politischen Anschauungen gezwungen, die Türkei zu ...
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