Den Menschen helfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen
Das Buch unterstützt Psychotherapeuten, Berater und Coaches darin, für ihre Klienten maßgeschneiderte Programme zur besseren Selbststeuerung nach eigenen Werten und Zielen zu entwerfen und umzusetzen. Das hier vorgestellte Modul »Selbstmanagement in Aktion« liefert praxiserprobte und sofort einsetzbare Vorgehensweisen.
Noch nie haben sich die Lebens- und Arbeitswelten so schnell verändert wie in den letzten zwei Jahrzehnten.
Es wird zunehmend wichtiger, sich seiner Stärken und Kompetenzen bewusst zu werden und diese weiter zu entwickeln. Die Selbstorganisationsprozesse eines jeden Menschen wirken dabei mit, der eigenen Persönlichkeitsentwicklung die gewünschte Richtung zu geben. Das hier vorgestellte Modul »Selbstmanagement in Aktion« ist für Psychotherapeuten, Berater und Coaches sofort einsetzbar und praxiserprobt.
Auch alle Übungen sowie die theoretischen Inputs und zahlreichen Praxisbeispiele sind anwenderfreundlich gestaltet.
Der Autor betreibt seit 1989 ein eigenes Weiterbildungsinstitut für Systemische Therapie und Beratung. Er arbeitet auch als Business-Coach und ist Trainer für Führungskräfte
Zielgruppe:
- PsychotherapeutInnen
- BeraterInnen und Coaches
- Beschäftigte in den helfenden Berufen
1. Einleitung 7
2. Die Selbststeuerung aktivieren 11
Die Person als selbstorganisierendes System
2.1. Lebende Systeme – autonome Prozesse 11
2.2. Die Konfiguration innerer Anteile – Aufb au einer integrativen Struktur 15
2.3. Umgang mit der Komplexität 18
2.4. Wirklichkeitskonstruktionen 19
2.5. Kommunikation und Interaktion 24
3. Das Leben selbst in die Hand nehmen . 26
Selbstorganisationsprozesse unter der Lupe
3.1. Die Teile und das Ganze 29
3.2. Werte und Ziele 40
3.3. Orientierungen durch Regeln und Glaubenssätze . . 42
3.4. Regeln nehmen Muster an . . 49
3.5. Strategien des Scheiterns: Problemkonstruktionen und Teufelskreise . . 52
3.6. Erfolgsstrategien . . 63
3.7. Die Integration des Ganzen: Parts Party 85
3.8. Selbstmanagement in Aktion 97
4. Den Wandel gestalten 102
Aus Lebenskrisen lernen
4.1. Entwicklungsprozesse . . 103
4.2. Veränderungen 104
4.3. Veränderungen als Lernprozess . . 110
4.4. Krisen 115
4.5. Tod des Ego – Wiedergeburt des Selbst 120
4.6. Wenn die Lösung zum Problem wird . 124
5. Systemisch-integrative Interventionen 126
Therapeutenpersönlichkeit und Kompetenzprofil
5.1. Selbstorganisierende Kompetenzen des Th erapeuten als Basis systemisch-integrativer Interventionen 126
5.2. Kommunikative Kompetenzen und Interventionen 133
5.3. Kreative Interventionen, Rituale und Inszenierungen 142
6. Praxisbeispiele 154
6.1. Bearbeitung traumatischer Erlebnisse 154
6.2. Regeltransformation und Musterunterbrechung 170
6.3. Jugendlichenpsychotherapie 182
6.4. Aufbau einer integrativen Struktur 184
6.5. Therapie in Trance . 197
Liste der Übungen 206
Liste der Praxisbeispiele 207
Literatur 208
1. Einleitung
Wir leben in einer Welt, in der Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Entwicklungsfreude einen wichtigen Stellenwert erlangt haben. Persönlichkeit ist gefragt, und hierzu gehört unzweifelhaft die Fähigkeit, sich seiner Potenziale und Ressourcen bewusst zu sein oder zu werden. Selbstorganisation ist ein aktiver Prozess, bei dem das Individuum sich aus sich selbst heraus weiterentwickelt, sich sozusagen selbst gestaltet und verändert. Sich immer wieder neu zu erfinden und somit in die Lage zu kommen, die Herausforderungen des Lebens zu meistern und an ihnen zu wachsen, ist eine Kernkompetenz in einer sich immer schneller wandelnden Gesellschaft.
Anstatt auf Orientierungsvorgaben durch öffentliche Instanzen vergeblich zu warten, ist es für die eigene Lebensplanung und -gestaltung von großer Bedeutung, sich der eigenen Orientierungen klar zu sein und diese mit der subjektiven Bedeutungszuschreibung über relevante Lebensbereiche in Einklang zu bringen.
Das vorliegende Buch möchte Impulse geben für kreatives Denken und Handeln bei der Beschäftigung mit sich selbst. Es soll zu Veränderungen beitragen, um den Herausforderungen des Lebens gewachsen zu sein, seine eigenen Ziele zu erreichen und sich als erfolgreich zu erleben – was immer das für den Einzelnen bedeuten mag.
Das Buch will die Wertschätzung und Herzlichkeit für sich und andere stärken und Zuversicht ausstrahlen. Theoretische Inputs werden ergänzt durch ganz konkrete Praxisbeispiele aus dem therapeutischen Alltag, in dem das Thema Persönlichkeitsentwicklung zum Kernthema geworden ist. Die Leserin und der Leser werden immer wieder eingeladen, durch kurze Übungen die Entwicklung oder Stabilisierung der eige nen Selbstorganisationsprozesse zu fördern und weiter auszubauen. Die Zielsetzung besteht dabei darin, sich selbst näher zu kommen und mehr Empathie und Wertschätzung für sich zu entwickeln und zu empfinden.
Beschäftigte in den sogenannten helfenden Berufen werden überrascht sein über die große Anzahl inspirierender Vorschläge für die eigene Praxistätigkeit – sei es in der Beratungsstelle, im Kindergarten oder im Klinikalltag. Sie finden Praxistipps für eine professionellere Ausgestaltung ihrer Therapie- und Beratungstätigkeit sowohl mit Kindern, Jugendlichen und einzelnen Erwachsenen als auch mit Paaren, Familien, Gruppen und Teams.
Dies wird möglich durch die Betrachtung und Beschreibung eines sehr zentralen menschlichen Themas: die Selbstorganisation lebender Systeme. Diese Prozesse des menschlichen Seins können wir nutzen, um uns sowohl kontextadäquat zu organisieren als auch Umwelten zu kreieren und zu modifizieren. Selbstorganisation schließt beides mit ein: Anpassung und Einflussnahme gleichermaßen. Wie dies konkret zu realisieren ist, davon handelt das Buch.
Mein Verständnis von Selbstorganisation, Entwicklungs- und Veränderungsarbeit sowie Krisenbewältigung ist eng verbunden mit dem Wachstumsmodell von Virginia Satir (growth model) und der Humanistischen Psychologie. Weitere Entwicklungs- und Therapiekonzepte haben unsere therapeutische Arbeit mit einzelnen Erwachsenen, Kindern, Jugendlichen sowie Paaren und Familien ebenso beeinflusst und bestärkt wie unsere Ausbildungsinhalte und Vermittlungsformen. Es sollen hier die wichtigsten Ansätze und Persönlichkeiten genannt werden, die mich und meine in unserem Psychotherapeutischen Zentrum mitwirkenden Kolleginnen und Kollegen maßgeblich geprägt haben:
> Carl Rogers und sein Konzept der Personenzentrierten Psychotherapie, bei der das Einfühlungsvermögen des Therapeuten erste Priorität hat
> Virginia Satir und ihre wunderbare Fähigkeit des Ankoppelns und Umdeutens, der Prozessarbeit und der immer wieder kreativen Art, innere Zustände in äußere Bilder, Szenen und Skulpturen zu übertragen und somit für die Beteiligten erlebbar zu machen
> Martin Kirschenbaum und seine lebendige und engagierte Art und Weise, systemisch-integrative Strukturen aufzubauen und weiterzuentwickeln
> Al Pesso und sein Konzept der idealen Beelterung in der psychomotorischen Therapie
> M. Selvini Palazzoli und das Mailänder Team, das auch mit bizarren Kommunikationsformen, Double-binds und Multi-binds umzugehen verstand
> Boscormenyi-Nagy und sein Konzept des Ausgleichs von Geben und Nehmen
> Salvatore Minuchin, der schon vor vier Jahrzehnten der Frage nach Verstrickungen und nach dem richtigen Platz in der Familie erfolgreich nachgegangen ist
> Gundl Kutschera, die es versteht, die unterschiedlichsten Personen auf spielerische Weise zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu bringen
> Gunther Schmidt, der David Copperfield unter den Therapeuten, der es mit spielerischer Leichtigkeit und Humor schafft, die emotionale Befindlichkeit durch die Welt innerer Bilder zu »verzaubern« und damit zu verbessern
> Gunthard Weber und seine schöpferische Weise, Lösungswege zu erfinden
> Fritz Simon und seine klaren und witzigen Analysen von komplexen Zusammenhängen
> Matthias Varga von Kibed und seine unnachahmliche Art der Präsentation von Logik, logischen Ebenen und Strukturen
> Helmut Willke und seine Präzision in der Beschreibung und Darstellung systemischer Konzepte und Interventionen, u. a. auch die Ansätze zum systemischen Wissensmanagement
Die dem hier beschriebenen systemisch-integrativen Konzept zugrunde liegende philosophische Richtung ist der Konstruktivismus sowie die Theorie der Autopoiesis (Humberto R. Maturana und Francisco
J. Varela) und verschiedene Ausprägungen der System- und Kommunikationstheorie (Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Paul Watzlawick, Martin Wainstein, Steve de Shazer, Fritz Simon u. a.).
Auf diesen Grundlagen wird hier ein beziehungsdynamisches Wachstumsmodell favorisiert, das sowohl interaktionelle als auch intrapsychische Prozesse mit einbezieht (Virginia Satir, Martin Kirschenbaum, Gunther Schmidt u. a.). Das generelle Metabehandlungsziel ist somit sowohl der Aufbau einer integrativen Struktur auf der individuellen Ebene als auch der Aufbau einer integrativen Struktur auf der familialen (oder mehrpersonalen) Beziehungsebene. Ich sehe dies als einen eigenständigen Weg, systemisch und systemtherapeutisch in vielfältigen Kontexten wie Einzel- und Familientherapie, Kinder- und Jugendlichentherapie, Supervision, Coaching und Organisationsentwicklung zu arbeiten.
Um einen guten Lesefluss zu ermöglichen, habe ich mich beim Schreiben für den Gebrauch der männlichen Form bei Worten wie »Therapeut«, »Klient« etc. entschieden. Bitte bedenken Sie, dass hiermit jeweils sowohl Therapeutinnen und Therapeuten, Klientinnen und Klienten usw. gemeint sind. Vielen Dank.
2. Die Selbststeuerung aktivieren
Die Person als selbstorganisierendes System
In diesem Kapitel wird zunächst die systemisch-konstruktivistische Betrachtungsweise über lebende und sich selbst organisierende Systeme, also Menschen im Allgemeinen und Personen im Sinne von sich unterscheidenden Individuen im Speziellen, dargestellt. Aus diesen Beschreibungen soll verständlich werden, wieso und wozu die psychotherapeutische Arbeit nach dem vorliegenden Konzept mit seiner im Weiteren beschriebenen Qualität ausgestaltet wird. Hieraus wird auch die spezifische Haltung des Psychotherapeuten deutlich, die sich von anderen Therapieschulen klar unterscheidet, obwohl auf der technisch-methodischen Ebene der Psychotherapie und Beratung immer größere Annäherungen zu beobachten sind.
2.1. Lebende Systeme – autonome Prozesse
Die Systemtheorie, der Konstruktivismus, die Kybernetik, die Neuro biologie und die Kommunikationswissenschaften haben durch ihre Forschungen und erkenntnistheoretischen Abhandlungen dazu beigetragen, dass wir heute ein ganzheitliches Bild von Menschwerdung und Lebensgestaltung wahrnehmen können. Diesen Erkenntnissen und An nahmen zufolge sind Lebewesen dadurch charakterisiert, dass sie sich ständig selbst erzeugen: Lebende Systeme organisieren sich autopoietisch (griech. autos = selbst, poiein = machen) und operieren selbstreferenziell (vgl. Maturana/Varela, 1987, S. 50 ff.). Ihr Handeln wird von inneren Prozessen geleitet. »Die innere Gestaltbarkeit und Flexibilität lebender Systeme, deren Funktionieren mehr von dynamischen Zusammenhängen als von starren mechanischen Strukturen kontrolliert wird, lässt eine Anzahl charakteristischer Eigenschaften entstehen, die man als verschiedene Aspekte desselben dynamischen Prinzips ansehen kann – des Prinzips der Selbstorganisation.« (Capra, 1983, S. 298)
Äußere Signale und Informationen haben einen nur eingeschränkten Einfluss auf die inneren Prozesse, und sie können auch nur dann wirksam werden, wenn sie zu den inneren Abläufen passen. Somit kann bei selbstorganisierenden Systemen von einem hohen Maß an (relativer) Autonomie ausgegangen werden.
Nach Ernst von Glasersfeld (1997) ist Viabilität, also die Passge nauigkeit einer von außen kommenden Information für die innere Selbstorganisation, eine grundlegende Voraussetzung für den Austausch und die Interaktion eines lebenden Systems mit anderen. »Ein autonomes System ist mithin ein System, das auf der Grundlage autopoietischer Selbststeuerung spezifische, durch seine Leitdifferenz und seinen Operationsmodus vorgezeichnete Umweltbeziehungen unterhält.« (Willke, 2000, S. 65) Das bedeutet in der Praxis, dass erst die Offenheit eines Systems für Informationen von außen einen Austausch mit anderen möglich macht.
Der Unterschied zwischen Autopoiese und Umweltbezug wird mit dem Begriff Autonomie zueinander in Beziehung gesetzt und verkoppelt. Die autonomen Prozesse lebender Systeme implizieren sowohl selbstreferenzielle Operationen als auch die Fremdreferenz. Kommunikation ist die Brücke zwischen Innerem und Äußerem. Es werden jedoch nur solche Kommunikationsinhalte in das psychische System einfließen können (im Sinne von bedeutungsvoll werden), die der Selbststeuerung dienlich sind. Unser Gehirn ist in der Lage, unpassende Informationen auszublenden, zu ignorieren. Sollte es sie registrieren und als unpassend oder seltsam einstufen, dann bleibt immer noch die Möglichkeit der Verzerrung. Erziehungsmaßnahmen, Strafen und Bußgelder können zwar zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung dienen, sind aber als Mittel, einen interaktiven Lernprozess zu erzeugen, ungeeignet, da es oftmals an der Übereinstimmung in der Betrachtungsweise mangelt bzw. diese auch nicht beabsichtigt ist und hierdurch die bestehende Sichtweise des Bestraften eher bestärkt als verändert werden kann.
Der Unterschied zwischen Psychologie und Pädagogik einerseits und Medizin andererseits ist zumindest in einer Hinsicht gravierend und gleichzeitig bedeutungsvoll: Während Mediziner mit ihren körperorientierten Verfahren den Organismus eines Menschen unmittelbar
beeinflussen können, gelingt dies Psychologen und Pädagogen in dieser direkten Art und Weise eher nicht. Sobald Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Personen im Spiel ist, geht es immer um die Qualität der Beziehungsgestaltung als Voraussetzung für ein konstruktives Gelingen. Erst die viable Kommunikation, also eine solche, für die beide Gesprächspartner Zustimmung signalisieren, macht den Informationsaustausch möglich. Auf dieser Basis kann eine Öffnung der operativ geschlossenen psychischen Systeme stattfinden.
Lebende Systeme sind anders organisiert, als gemeinhin angenommen wird. Zu sehr dominiert noch die alte Idee von Erziehung, die annimmt, man könne andere Menschen zu Veränderungen bewegen, wenn man nur streng genug wäre, Anreizsysteme schaffe, genügend Kontrolle ausübe oder sie in Abhängigkeit halte.
Jedoch wissen Lehrer, Ärzte und Psychotherapeuten, Fußballtrainer, Manager – und Eltern sowieso: Man kann andere Menschen nicht ohne Weiteres verändern und ohne ihre Zustimmung beeinflussen. Es ist zwar möglich, Menschen zu beugen, z. B. in Zwangskontexten wie Sekten, unter Drogen, mit Medikamenten oder durch Androhung von Gewalt usw. Jedoch ist es nicht wirklich möglich, sie ohne ihr Zutun in eine von außen vorgegebene Richtung zu lenken.
Wir Menschen haben eine Art Schutzmöglichkeit vor äußeren, unerwünschten Beeinflussungen entwickelt, die dazu beiträgt, selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu handeln. Durch massives Durchdringen dieser Schutzschicht wird immer eine große Verletztheit, Irritation, Angst oder Ohnmacht erzeugt. Wir sprechen hierbei von Trau mata, die durch Gewalt, sexuelle Übergriffe, plötzliche diskontinuierliche Veränderungen wie z. B. unerwarteter Tod, Trennung, Behinderung, Unfälle usw. oder auch durch Umweltkatastrophen oder Kriegsereignisse und Terrorattacken ausgelöst werden. Ziel der psychotherapeutischen Arbeit ist es dann, die natürlichen Schutzmechanismen der Psyche wieder aufzubauen.
Aus dem Gesagten soll deutlich werden, dass psychische Systeme sehr eigen-artig sind – und einzigartig zugleich. Die Konsequenzen werden bei der Betrachtung der kindlichen Entwicklung interessant. Es wird verständlich, wodurch die vielfältigen Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahrzehnten begünstigt worden sind. Die Erwartungen an Selbstständigkeit und damit verbunden auch an Selbstverantwortung werden ständig erhöht, jedoch hat soziales Lernen als Voraussetzung für die Entwicklung von Selbstständigkeit einen immer noch zu geringen Stellenwert. Es wird viel gefordert und allgemein zu wenig angeleitet. Besonders unter systemischen und kulturspezifischen Gesichtspunkten brauchen Kinder und Jugendliche, Eltern und Pädagogen sowie andere Bildungs- und Entwicklungsagenten neue Konzepte des kindlichen Seins und Werdens gleichermaßen. Wilhelm Rotthaus (1998, S. 45) hat dies in treffender Weise beschrieben, indem er sagt, dass die erziehenden Erwachsenen mit dem Kind als Partner handeln und es als eine autonome und gleichberechtigte Person anerkennen sollten. Zugleich sehen die Erwachsenen die Anleitungs- und Unterstützungsbedürftigkeit des Kindes und erziehen es, indem sie ihm Lernen ermöglichen und es damit in die Kultur einführen. »Das Kind ist damit nicht mehr Objekt erzieherischer Bemühungen, sondern bleibt Subjekt seines Lebens und seiner Entwicklung.«
Die Herausforderung bei der Gestaltung von Beziehungen liegt darin begründet, dass jedes System seine eigene Sicht der Dinge entwickelt, also seine Realität und Wirklichkeit nach subjektiven Erfahrungen, Erkenntnissen oder Annahmen konstruiert. Hieraus erwächst für jeden Kommunikator die Notwendigkeit, von seiner eigenen, ihm vertrauten Realitätssicht Abstand zu nehmen und von dieser jederzeit abstrahieren zu können, um Zugang zu anderen Realitäten zu erhalten.
Selbstorganisationsprozesse in lebenden Systemen wie dem einer Person sind geprägt von der Fähigkeit, ständig zu lernen und sich somit permanent selbst zu erneuern. Die zentrale Bedeutung der Selbstorganisation ergibt sich aus dem dynamischen Wechselspiel von Bewahren und Verändern, Annehmen und Loslassen. Hierdurch sind selbstorganisierende Systeme ständig in Bewegung. Durch die Komplexität des Lebens angeregt, befindet sich die Selbstorganisation in einem ständigen Prozess des Ausbalancierens unterschiedlicher dynamischer Zustände. Obwohl diese Organisation des Selbst sich in ständigem Wandel befindet, bleibt die Gesamtstruktur erhalten. Capra (ebda., S. 300) nennt es »die dynamische Stabilität der sich selbst organisierenden Systeme«. Hierdurch ist es dem Menschen möglich, sich den verändernden Umweltbedingungen angemessen anzupassen und gleichzeitig diese zu beeinflussen. Anpassung und Einflussnahme zeigen sich somit als die zwei Seiten der gleichen Medaille: der Lebensgestaltung.
2.2. Die Konfiguration innerer Anteile – Aufbau einer integrativen Struktur
Zu den autonomen, selbstgesteuerten, dynamischen Prozessen gehört im Wesentlichen die Konfiguration der inneren Persönlichkeitsanteile: Die Person als selbstorganisierendes System schafft sich ihre eigene Welt, eine Art Persönlichkeitslandschaft. Wie jede Landschaft besteht diese aus unterschiedlichen Regionen und Gegebenheiten. Zu diesen zähle ich die körperliche Seite des Seins (organisch-biologische Vorgänge wie z. B. Stoffwechselprozesse), die Wahrnehmungsprozesse mithilfe der Sinnesorgane, die Welt der Gefühle, die Welt der Gedanken und des Intellekts sowie die Welt der Kommunikation und Beziehungsgestaltung.
Aus dem Konglomerat dieser verschiedenen Facetten des menschlichen Seins kann jede Person sich die ihr passende, einzigartig-individuelle Konfiguration spezifischer Anteile zusammensetzen. Diese Anteile verkörpern jeweils spezifische Persönlichkeitseigenschaften. Die Integration dieser Eigenschaften bildet die personale Identität, die, sinnbildlich gesprochen, persönliche »Mitte«, das zentrale Kraftfeld einer Person.
Desintegration relevanter Anteile führt hingegen zu einem Ungleichgewicht im System und bewirkt, dass einige Anteile ein Übermaß an Bedeutung gewinnen und eine gewisse Dominanz entwickeln können, während die ausgegrenzten Aspekte ungenutzt bleiben. Ist dieser Zustand chronifiziert, kann das Auswirkungen auf die psychische wie körperliche und soziale Konstitution haben. Ein Mensch fühlt sich dann einseitig belastet, erlebt sich als gestresst, überfordert oder krank.
Lebende Systeme kennen den Wunsch nach Homöostase (Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im System), obwohl sie in der Lage sind, Unausgewogenheiten über lange Zeiträume durchzustehen. Bei Ungleichgewichten stellt sich die Frage, wodurch und zu welchem Preis dieser Zustand der fehlenden Balance kompensiert werden kann. Kompensationen (z. B. psychosomatische Symptome, Verhaltensauffälligkeiten usw.) haben den Vorteil, dass wichtige Funktionen des Systems beibehalten werden können, andererseits kann eine Kompensation zu einer Problempotenzierung führen.
Der Umgang mit Schlafmangel soll das verdeutlichen: Ist die notwendige Schlafmenge nicht gewährleistet, reduziert sich während des Tages die Konzentrationsleistung. Um wach zu bleiben, wird z. B. viel Kaffee getrunken, was zu einer Übersäuerung des Magens führt. Legt sich die Person dann wieder zum Schlafen hin, spürt sie die Magensäure als Sodbrennen und kann nicht schlafen. Deswegen muss sie sich am nächsten Morgen wieder neu stimulieren, z. B. durch Medikamente, die für Wachheit sorgen, was durch die Nebenwirkungen in Form von Bluthochdruck zu schnellerer Herztätigkeit führt und gleichzeitig die Belastbarkeit reduziert, was wieder zu weiteren Auswirkungen führen wird usw. usw. Ein Teufelskreis beginnt, und oft wird der Körper für sein Versagen verantwortlich gemacht – und nicht die eigene Steuerung der Selbstorganisation.
Die praktische Bedeutung der Selbstorganisation möchte ich am Beispiel eines Teams verdeutlichen: Jedes Team besteht aus unterschiedlichen Teammitgliedern, die jeweils füreinander relevante Umwelten bilden und miteinander kommunizieren. Diese sind die Voraussetzung dafür, dass ein Team besteht. Teams wollen ein gestecktes Ziel erreichen, eine Aufgabe erfüllen oder bestimmte Ergebnisse generieren. In einem Team ereignen sich Selbstorganisationsprozesse auf zwei unterschiedliche Ebenen gleichzeitig: zum einen auf der individuell-persönlichen Ebene und zum anderen auf der Ebene des Teams als kommunizierendes und interagierendes System. Jedes Teammitglied ge staltet hierdurch als psychisches System selbstorganisiert, also mit seinen jeweiligen Eigenschaften und Fähigkeiten (den Elementen) und seinem spezifisch individuell ausgeprägten Zusammenspiel dieser Elemente (den Regeln und Mustern auf der individuellen Ebene), den Kommunikationsprozess im Team (als soziales System) und damit auch das Arbeitsergebnis. Indem sich jedes Teammitglied in seiner ihm eigenen Art in den Kommunikationsprozess des Teams einbringt und ihn autonom mitgestaltet, beteiligt es sich hierdurch an der Entstehung einer spezifischen Teamstruktur.
Auch der Vergleich mit einer Fußballmannschaft soll erlaubt sein: Das Spielfeld ist dann zu vergleichen mit der bereits erwähnten Persönlichkeitslandschaft und aufgegliedert in die Bereiche Tor, Strafraum, Mittelfeld, Strafraum des Gegners und Tor des Gegners. Jeder Bereich wird mit spezifisch qualifizierten Spielertypen besetzt (den Persönlichkeitseigenschaften) wie Torwart, Verteidiger, Mittelfeldspieler und Angreifer. Das Ziel besteht darin, mindestens ein Tor mehr zu schießen als der Gegner. Die Taktik (die Steuerung) wird sowohl die Spielerauswahl (die Teile) als auch die Spielweise, also die Art und Weise des Zusammenspiels (die Konfiguration, die sich in einem Spielmuster ablesen lässt), bestimmen. Die Abstimmung von Ziel, Steuerung und Ausführung wird über das Erreichen oder Nichterreichen des Ergebnisses entscheiden. (Der Einfluss des Schiedsrichters, des Publikums und des Gegners bleiben der Überschaubarkeit wegen unberücksichtigt, gehören aber zu den relevanten Kontextbedingungen.)
Jetzt stellen Sie sich bitte einmal vor, eine Fußballmannschaft, die normalerweise aus zehn Feldspielern und einem Torwart besteht, würde mit elf Torleuten auftreten oder mit elf Angreifern oder käme nur mit sechs statt elf Leuten auf den Platz. Oder noch verrückter: Sie würden sich nicht den Ball zuspielen, sondern gegenseitig wegnehmen usw.
Auf das einzelne Individuum bezogen können wir uns ebenso vorstellen, von einer inneren Teamstruktur zu sprechen. Die einzelnen Elemente solch einer Persönlichkeitsstruktur können nicht im Einzelnen die Person bestimmen, sondern nur das Zusammenspiel (das Interaktionsklima) gestalten. Wichtig ist also zu beachten und darauf einzuwirken, ob und wie die Verknüpfungen und Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen bestehen. Symptome und psychosomatische Störungen lassen darauf schließen, dass die Verbindungen zwischen einigen Teilen des Systems dysfunktional verlaufen (oder gar nicht vorhanden sind) bzw. zu verbessern sind.
Eine integrative Struktur entwickelt sich durch sich selbst, durch eine optimale Verknüpfung vorhandener Persönlichkeitsanteile. Erst wenn die entsprechenden Teile miteinander in Verbindung sind und eine passende Konfiguration (ein inneres Team) bilden, können sie sich auf angemessene Weise nützlich machen und integrierend wirksam werden. Eine integrative Persönlichkeitsstruktur erschafft eine emergente Kraft im System, und das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Kommen wir jetzt dazu, weitere theoriegeleitete Implikationen der systemisch-integrativen Therapie explizit – und somit ableitbar und nachvollziehbar zu machen. Nur so wird es möglich, das einem Therapieprozess zugrunde liegende Bearbeitungsmuster zu verstehen und für die eigene Arbeit zu nutzen.
2.3. Umgang mit der Komplexität
Die Lust auf eine Reise hängt oftmals mit dem Wunsch nach Veränderung zusammen, dem Wunsch, etwas Neues zu sehen, zu erleben, etwas, das einen in einen anderen Zustand versetzt, die übliche Alltagsroutine unterbricht und einen irgendwie auf sehr individuelle Weise bereichert. Je nachdem, was für einen Zustand man als Alternative zum Bisherigen anstrebt, wird man sich sein Reiseziel auswählen. Mit einer Reise in die Wüste werden Sie schon jetzt andere Erlebnisse assoziieren, als wenn Sie an Island, Kanada oder Alaska denken. Finden Sie nicht auch, dass allein schon die Vorstellung unterschiedlicher Möglich keiten unterschiedliche innere Zustände bewirken kann? Dies ist eine wichtige Erkenntnis für die weitere Organisation des Selbst!
Bestimmte Vorstellungen werden stärkeres Interesse, Neugier oder Motivation wecken als andere. Das bedeutet, dass allein schon die Vorstellung von etwas, das einem besonders wichtig erscheint, eine deutliche, oftmals praxisrelevante innere Kraft, z. B. so etwas wie ein Bemühen, einen Drang, ein Sichanstrengen darstellen kann. Es ist ein Zustand von Selbstmotivation erreicht, der für die spätere praktische Umsetzung bedeutungsvoll ist. In manchen Situationen hat allerdings die Vorstellung schon einen solch starken Einfluss auf die eigene Befindlichkeit, dass die konkrete Umsetzung gar nicht mehr notwendig zu sein scheint (Meditieren, Tagträumen usw.).
Die grundlegende Annahme, dass Vorstellungen, also innere Bilder, einen wie auch immer ausgeprägten sinnlich-emotional spürbaren Zustand, ein Gefühl, ein Erleben usw. auslösen können, ist für unser Thema und die Untersuchung der Organisation von Selbstorganisationsprozessen besonders wichtig: Worauf ist die eigene Aufmerksamkeit gerichtet? Was nehmen wir wahr? Was wählen wir aus der unend lichen Vielfalt von Reizen, Informationen und Daten, aus der Komplexität des Lebens? Wie ist diese Selektion gestaltet und zu welchen Ergebnissen führt sie?
Ich möchte diese Fragen noch genauer betrachten, und zwar ausgehend von der Prämisse: Jeder Mensch besitzt ein strukturdeterminiertes Wahrnehmungsvermögen.
Hiermit konstruiert sich jeder seine eigene Wirklichkeit, das heißt, jedes psychische System schafft sich ein einmaliges selbst konstruiertes Abbild der äußeren Realität. Das innere Abbild der äußeren Realität wird somit zur Grundlage der personalen Orientierung. Wie Fritz Simon sinngemäß sagt: Wir tauschen uns über unsere inneren Landkarten aus, nicht über die Landschaft selbst.
Bereits Immanuel Kant (1724 – 1804) vertrat die Ansicht, dass wir die Welt nur in den Kategorien erkennen, die der Verstand bereithält, und nicht die Dinge selbst.
Wir schaffen uns unsere eigene einmalige Wirklichkeit und nehmen oftmals an, andere Menschen hätten das gleiche Abbild, die gleiche Landkarte, wir könnten also über das Gleiche kommunizieren und uns somit in Übereinstimmung verständlich machen. Ich nehme an, jeder kennt die mögliche Verkettung von Missverständnissen, zu der diese Erwartung führen kann.
Kein Mensch kann die Gesamtheit der Realität erfassen. Was wir sehen, sind immer nur Ausschnitte, winzige Aspekte des Ganzen. Gerade deswegen ist es von besonderer Bedeutung, den Wahrnehmungsprozess genauer zu betrachten, um sich seiner bewusst zu werden. Die Fokussierung von Aufmerksamkeit ist von entscheidender Wichtigkeit für die inneren Erlebniszustände eines jeden Menschen. Wie ich auf die Welt schaue, bestimmt mit, wie sich meine persönliche Wirklichkeit darstellt (vgl. Humberto Maturana u. Francisco Varela, Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Paul Watzlawik, Fritz Simon u. a.). Durch einen Perspektivenwechsel wird es möglich, andere Sichtweisen als die bislang bevorzugten für die Nützlichkeit eigener Vorhaben und Ziele zu evaluieren. Die Ausrichtung von Aufmerksamkeit liegt beim Betrachter selbst und ist ein bedeutendes Element seiner Selbststeuerung.
Die Analyse der Fokussierung von Aufmerksamkeit ist für den psychotherapeutischen Prozess von großer Bedeutung; denn hier wird entschieden, ob sich eher Erfolgsstrategien oder aber Muster des Scheiterns für die Gestaltung des Lebens etablieren.
2.4. Wirklichkeitskonstruktionen
Ludwig Wittgenstein schrieb 1922 im Tractatus logico-philosophicus: »Der Gedanke enthält die Sachlage, die er denkt. Was denkbar ist, ist auch möglich.«
Eng verknüpft mit der Aufmerksamkeitsfokussierung ist die Konstruktion von Wirklichkeiten. Erinnern möchte ich an dieser Stelle an das Glas, das je nach Einschätzung des Betrachters als halb voll oder als halb leer wahrgenommen werden kann. Natürlich sind beide Sichtweisen möglich. Watzlawick (1999, S. 39) spricht in diesem Zusammenhang von »Wirklichkeiten zweiter Ordnung«. Welche die bessere für den Betrachter darstellt, ist eine »unentscheidbare Frage« (H. von Foerster), die deshalb nur der Betreffende selbst für sich entscheiden kann. Unentscheidbare Fragen können nicht allgemeingültig oder objektiv beantwortet werden. »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.« (H. von Foerster, 1993, S. 153)
Hieraus ergibt sich die Feststellung, dass über das Wahrgenommene, die Befindlichkeit oder über den Zustand eines Menschen nicht sogenannte objektive Fakten entscheiden können, sondern immer Personen mit ihren ausschließlich subjektiven Einschätzungen, Erfahrungen, Beschreibungen und Bewertungen (»Was ich wahrnehme, ist für mich wahr.«), kurzum erfahrungsbedingte und absichtsorientierte, nicht aber naturgemäße Determinanten.
In den konservativen Richtungen der heutigen Humanwissenschaften wird immer noch im Sinne der Wissenschaftlichkeit um Objektivität gerungen, so als wenn eine Trennung von Beobachter und Beobachtetem realisierbar wäre. Dabei versucht man, dafür zu sorgen, dass die Eigenschaften des Beobachters nicht in die Beschreibung seiner Beobachtungen einfließen. Auch in der systemischen Therapie der Achtzigerjahre gab es Bemühungen, sich als Therapeut dem Klientensystem gegenüber neutral zu verhalten. Dies ist ein mühseliges und nicht wirklich zu realisierendes Anliegen. Hingegen meine ich, dass die Nützlichkeit der Rolle des Therapeuten für das Klientensystem in einer trans parenten Parteilichkeit und in Mehrpersonensystemen in einer offenen und zirkulierenden Allparteilichkeit mit den jeweiligen auch unterschiedlichen Sichtweisen, Anliegen und Zielen der Klientensysteme rea lisiert werden sollte. Das bietet die Möglichkeit, sich als Therapeut aktiv am Veränderungsprozess zu beteiligen, nicht als Besserwisser, mit Ratschlägen oder als Experte, sondern als Kooperationspartner auf der gemeinsamen Suche nach Verbesserungen und annehmbaren Lösungen.
Auch psychologische Tests, medizinische Analysen und standardisierte Fragebögen suggerieren, bei den Ergebnissen handele es sich um objektive Tatbestände wie z. B.: »Dieses Kind ist unkonzentriert«,
»Diese Person ist depressiv« usw. Für von Foerster bedeutet diese Denk- und Handlungsweise eine Verleugnung der Verantwortung derjenigen, die über diese Themen und Fragen zu entscheiden haben. Bei unentscheidbaren Fragen liegt die Verantwortung der Beantwortung bei uns als Entscheidern. Wir haben die Freiheit der Wahl zum Preis der Selbstverantwortung und zur Erschaffung von Authentizität.
Kinder sind wahre Weltmeister im Erfinden und Entwickeln eigener Wirklichkeiten. Ich möchte hier vorschlagen, den Begriff »symbolische Wirklichkeit« zu benutzen in Anlehnung an den Begriff »symbolisches Spiel«. Symbolische Wirklichkeiten dienen demnach dem Kind dazu, sich einen Wirklichkeitsraum zu schaffen, der seinen Bedürfnissen entspricht, Erlebtes anders als durch Sprache (der Erwachsenen) auszudrücken. Nicht das Spiel als Nachahmung ist hier gemeint, sondern vielmehr die Beschäftigung und Verarbeitung innerer Prozesse wie Erlebnisse und emotionale Zustände. Hierdurch kann das Kind seine innere Welt, seine Bedürfnisstruktur veräußerlichen. Es kann zu einem Tier werden, zu einem Baum, zu einem Flugzeug, das fliegt, usw. Es erzeugt sich selbst eine symbolische Wirklichkeit aus dem inneren Wunsch heraus, erlebte Erfahrungen durch Erleben symbolisch zu verarbeiten.
Auch ältere Kinder schaffen es leicht, äußere Sachverhalte auf ihre inneren Weltsichten, Prozesse und Bedürfnisse abzustimmen, wie das folgende Beispiel zeigt: Bericht über ein Experiment
Hans Geißlinger beschreibt in seinem Artikel »Röhren-Glühen« (1999, S. 17 ff.), wie 28 zehn- bis zwölfjährige Kinder während einer Ferienfreizeit mit dem Thema Fernsehen konfrontiert werden. Die Eingangsfrage an die Kinder lautet: »Wie viele Stunden verbringst du täglich mit Fernsehen?« Je nach der Menge ihres Fernsehkonsums werden drei Gruppen gebildet: bis zu einer Stunde tägliches Fernsehen, von einer bis zu vier Stunden und von vier bis zu sechs Stunden Fernsehkonsum. Die Kinder werden schließlich eingeladen, an einem Training teilzunehmen, um ihre Fernsehzeiten noch weiter zu verlängern. Natürlich sind die Kinder begeistert.
Das Training besteht aus einer Reihe von Lehrgängen: Augenmuskeltraining als vorbeugende Maßnahme gegen zu frühes Ermüden, Fern-Seh-Trockentraining mit zwei Meter langen Papprohren von der Spitze eines Hügels aus, ein Techniktraining, um bei Störungen des Geräts nicht lange auf den Reparaturdienst warten zu müssen, sowie ein Training für fortgeschrittene Glotzisten: Die Bebilderung einer Kuhpupille beim Blick durch kleine Toilettenrollen. 28 Kinder schauen 28 Kühen in die Augen. Die Ergebnisse sprechen für sich: Die Weitgucker bebildern die Landschaft (in Deutschland!) u. a. mit einem grünen Tiger, einem Schwarm Papageien sowie zwei Zebraherden. Die Nahglotzer erkennen in den Kuhaugen Liebeskummer, das Alter der Kuh usw.
Dann wird es ernst, der Fernsehmarathon beginnt. Jetzt kommt es nicht mehr darauf an, was die Kinder sehen, sondern dass sie sehen und wie lange sie durchhalten. Es findet wieder die Aufteilung in drei Gruppen statt. Gruppe eins sitzt vor einem auf Pappe gemalten »Fernsehgerät«, Gruppe zwei hat ein echtes Gerät, allerdings ist das Gerät kaputt. Zur Untermalung gibt es Klaviermusik. Die dritte Gruppe, die mit dem meisten Fernsehkonsum, schaut auf einen richtigen Fernseher mit einem Flimmerbild und Rauschen. Die Betreuer nehmen an, dass unter diesen Bedingungen kein Kind länger als 30 Minuten dabeibleiben wird. – Falsch! Einige sind über sechs Stunden dabei, und sie haben im späteren Interview viel zu erzählen über das, was sie »gesehen« haben.
Hier ein Ausschnitt als Kostprobe:
Kora: »Am Rand von diesem Flimmern war auch immer so ein Streifen, der sich ganz komisch bewegte. Anfangs dachte ich, das wäre so ein galoppierendes Pferd (...) die Lanze von einem Reiter.«
Kai: »Ja!«
Steffen: »Ja, und der jagt Tiere. Einmal habe ich auch gedacht, ich wäre ein Rennfahrer, und das wäre die Straße. Ich würde da langfahren (...) Ich hab nicht nur Bilder gesehen, sondern Leute, die reiten, Menschen, die beim Fußball sitzen (...) Einmal dachte ich, dass eine Eisenbahn aus den Gleisen springt und versucht, wieder reinzukommen.«
Steffen: »Ich habe auch eine Demo gesehen. Alles lauter Leute, die rennen, wegrennen, weil die Bullen sie umkreisen.« Kai: »Einmal war es auch so wie bei einem Stummfilm. Obwohl es ja immer gerauscht hat.« Betreuer: »Habt ihr keinen Moment daran gedacht, dass es bescheuert ist, was ihr da macht?«
Kora: »Weiß nicht. Es hat irgendwie Spaß gemacht, davor zu sitzen.«
Betreuer: »Könnt ihr euch vorstellen, wenn ihr jetzt woanders hin kommt, wo ein richtiges Programm läuft, dass ihr sagt: Bitte schal tet mal auf das Flimmern um?« Kai: »Ja, kann ich mir vorstellen.« Kora: »Besser noch, dass ich den Fernseher ausmache und mich vier Stunden davorsetze.« Kai: »Aber die da draußen verstehen das nicht.«
Da die äußere Realität innerlich rekonstruiert wird durch Abbilder, Bebilderungen und subjektive Wahrnehmungsinhalte, können wir davon ausgehen, dass durch eine Veränderung dieser inneren Wirklichkeitskonstruktion ein anderer, z. B. wünschenswerter, also irgendwie besserer innerer Zustand hergestellt werden kann, der sich wiederum in einer besseren Resonanz der Umwelt gegenüber auswirken wird.
An dieser Stelle möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Wirklichkeitskonstruktionen des Psychotherapeuten lenken. Die Frage lautet: Mit welchen Bebilderungen begegnet er seinen Klienten und Kunden? Selbsterfahrung und Eigentherapie bieten für den Psychotherapeuten eine wichtige und unabdingbare Voraussetzung, sich seiner eigenen Wirklichkeitskonstrukte – besonders bezogen auf den jeweils beruflichen Kontext – bewusst zu werden: »Wie ist meine Wahrnehmung organisiert? Was nehme ich wahr, was wird überhört oder übersehen? Was ist mir wichtig, was unwichtig? Welche Interpretationen und Bewertungen werden von mir vorgenommen?« usw.
Es gibt Therapeuten, die brauchen die Probleme der Klienten, um hierdurch eine Art Arbeitsberechtigung zu erhalten. Kann der Klient kein Problem liefern, dann gibt es keinen Grund für therapeutisches Arbeiten. Andere Therapeuten freuen sich über solch eine Situation und fragen danach, wie es der Klient geschafft hat, problemfrei zu sein. Sie fragen nach seinem Erfolgsrezept, also nach den vorhandenen Kompetenzen, die eine Veränderung möglich werden ließen.
Die Wirklichkeitskonstruktion des Therapeuten hat großen Einfluss auf den Verlauf von Therapien und auf die Erfolgsaussichten des Klienten. Umso wichtiger ist es, eine Haltung und Sichtweise, die von Offenheit für das Mögliche (oder besser noch: das zunächst noch Unmögliche) geprägt ist, einzunehmen.
2.5. Kommunikation und Interaktion
Durch Kommunikation erweitert sich das psychische System zu einem sozialen System. Hierdurch wird es möglich, Signale, Zeichen, Daten, Informationen, Botschaften und deren Bedeutungen mit anderen sozialen Systemen auszutauschen. Kommunikation stellt für jede Art sozialen Lebens, damit auch für das Überleben, also für kontinuierliche Lern-, Anpassungs- und Entwicklungsprozesse, eine unvermeidbare Notwendigkeit dar. Ohne Kommunikation kein Informationsaustausch, keine wirkliche Weiterentwicklung.
Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld (1999, S. 107 ff.) haben sich bei einem gemeinsamen Treffen über die Kunst des Aneinandervorbeiredens ausgetauscht. Sie nahmen dabei Bezug auf eine Konferenz mit dem Thema »Language and Learning«, bei der Kommunikationskoryphäen wie Chomsky, Piaget, Bateson u. a. anwesend waren. Die Beschreibung ihrer Erfahrungen klingt vernichtend: »Die waren unfähig zuzuhören. Alles wurde sofort an die eigenen Begriffe assimiliert (...), und was man nicht begreift, ist eben falsch (...), da wird dann alles von der eigenen Grundposition aus betrachtet, und dann gibt es keine Verständigung.«
Der selbstorganisierende Mensch braucht für seine Selbstorganisation ständige Rückkopplungsprozesse. Er benötigt geradezu Differenzen zu seiner Selbstsicht, um hieraus Rückschlüsse ziehen zu können. Wird dies nicht zugelassen, beharrt jeder auf seiner vermeintlich allein richtigen Sichtweise. Dann kommt es zu Stillstand, Ohnmacht, Leere oder Kampf. Kommunikation meint hier nicht Übereinstimmung. Für eine gelingende Kommunikation ist dies kein Kriterium. Dissens, Unterschiedlichkeit, Divergenz usw. machen erfahrungsbasierte Entwicklung erst möglich.
Es gibt jedoch Einflussgrößen, die das Gelingen von Kommunikation begünstigen. Hierzu gehört erstens eine Verständigung darüber, ob es zu einer Kommunikation kommen soll (Kontextklärung) und unter welchen Bedingungen (Kommunikationsregeln). Zweitens die Darstellung des unmittelbaren Bezugsrahmens: Z. B. wird die Beschreibung einer Absicht, eines Ziels usw. mitkommuniziert (Kommunikationstransparenz). Drittens ist eine Mitteilung darüber, wie der Kommunikationsinhalt aus der Sicht des Senders verstanden werden soll, von Vorteil (Gebrauchsanleitung). Auf der Seite des Empfängers wird die Kommunikation durch Zuhören (Zulassen einer Aussage), Interesse zeigen, Offenheit für das Fremde, das Neue, das andere ermöglicht. Das macht die Kunst des Verstehens aus! Und diese Bereitschaft des Zuhörens kann nur von einem selbst gemacht werden (autopoietisch eben).
Für das Gelingen von Kommunikation ist es erforderlich anzuerkennen, dass jedes System seine eigene Sicht der Dinge entwickelt, also seine Realität und Wirklichkeit nach subjektiven Erfahrungen, Erkenntnissen oder Annahmen konstruiert. Dies ist der selbstorganisierte Bezugsrahmen. Hieraus erwächst für jeden Kommunikator die Notwendigkeit, von seiner eigenen Realitätssicht jederzeit abstrahieren zu können, um Zugang zu anderen Realitäten zu finden.
Die systemisch-konstruktivistische Betrachtungsweise kommunikativer Prozesse verdeutlicht, wie anspruchsvoll menschliche Kommunikation – besonders im Sinne von Verständigung – für die Beteiligten ist. Informationen und Signale der Außenwelt können schließlich nur mit den eigenen Mitteln, den Strukturen der eigenen Innenwelt verarbeitet, d. h. erfahrungsdeterminiert verstanden werden. Die Herausforderung besteht somit darin, den fremden Bedeutungszuschreibungsmodus einer anderen Person verstehen zu lernen und für die Kommunikationssequenz zu nutzen. Dabei bleibt die Unterschiedlichkeit der Beteiligten bestehen. Luhmann (vgl. Luhmann, 1986, S. 80) nennt dies »beobachtendes Verstehen« oder auch »Fremdverstehen«.
Für Psychotherapeuten ist das Wissen um Kommunikation von grundlegender und entscheidender Bedeutung. Durch den kommunikativen Austausch entwickelt sich Beziehung, und durch den Gebrauch kommunikativer Mittel wird die angestrebte Verbesserung, Veränderung oder Heilung erst möglich.
3. Das Leben selbst in die Hand nehmen
Selbstorganisationsprozesseunter der Lupe
Nach Maturana und Varela entspricht die Operationsweise eines lebenden Systems in erster Linie der Logik dieses Systems selbst. Es kommt zu einer zirkulären Vernetzung seiner Operationen, zu einer »basalen Zirkularität«, nach welcher das System auf sich selbst reagiert. Als autopoietisches System reproduziert es die Elemente, aus denen es besteht, durch genau ebendiese Elemente, aus denen es besteht. Neu ist an dieser Erkenntnis, dass lebende Systeme durch die spezifische Art ihrer Selbststeuerung als geschlossene Systeme angesehen werden, die unabhängig sind von ihren relevanten Umwelten. Gleichzeitig stehen sie permanent in Außenbeziehungen zu diesen Umwelten und können hierdurch – entsprechend der Logik, die ihre Selbststeuerung vorgibt – aus externen Ereignissen Informationen und Energien ableiten und aufnehmen.
Die Logik der Selbststeuerung erwächst im wahrsten Sinne des Wortes aus der historischen Dimension der personalen Entwicklung. Zirkularität ist somit nicht auf das Hier und Jetzt reduziert, sondern ist eingebettet in eine historische Dimension von Annehmen und Loslassen.
Kinder werden in eine ganz spezifische Familiendynamik hineingeboren. Sie sind vielleicht das erste Kind, Einzelkind, Zwilling oder eins von mehreren Geschwistern, möglicherweise auch das jüngste Kind. Sie werden hineingeboren in eine Gesellschaft, in eine Kultur, in eine geografische Region und in die Schwerkraft, was neues Lernen von Anfang an erforderlich macht, um sich durch das Leben zu »bewegen«. Jeder Mensch wächst als Kind in einer Familie oder mit anderen relevanten Bezugspersonen auf und lernt durch die Qualität der sozialemotionalen Ereignisse im Kontext eines spezifischen Beziehungsgefüges, sich selbst und andere wahrzunehmen.
Wir wissen heute dank Ultraschallbildern, intrauteriner Filmaufnahmen und anderen Techniken, dass sich das psychische Erleben eines Kindes bereits in der vorgeburtlichen Phase seines Lebens entwickelt. Hierbei bilden vor allem akustische Erfahrungen während des Wachsens im mütterlichen Uterus eine bedeutende Orientierungsgrundlage. Ebenso wie ein Kind in dieser Zeit der Symbiose mit der Mutter über ihr Blut, ihre Hormone, ihre Herztöne und ihre Bewegungsabläufe verbunden ist, so ist es verbunden mit ihren Stimmungen, Empfindungen, Gefühlslagen usw., durch die auch ihre Einstellung zum Kind im Mutterleib erlebbar wird. Ablehnung ebenso wie Zustimmung wird vom Kind in der vorgeburtlichen Phase wahrgenommen, und es wird lernen, seine Selbstorganisation auf eine eher liebevolle oder eher ablehnende Umgebung abzustimmen.
In der Phase seiner Sozialisation lernt ein Kind durch die unterschiedlichen sozialen und emotionalen Ereignisse, was und wie es sein darf und was und wie es nicht sein soll. Durch zahlreiche Ge- und Verbote lernt der kleine Mensch, sich in der Komplexität seiner Lebensumstände zu orientieren. Er nimmt Regeln in sich auf und verinnerlicht Glaubenssätze (Selbstattribuierungen) über sich selbst und über die Welt. Er lernt zu unterscheiden zwischen Wichtigem und Unwichtigem in seinem Herkunftssystem, zwischen wertvollen und wertlosen Aspekten des Lebens. Er nimmt die Werte, Absichten und Ziele der Fami lie in sich auf und organisiert sein eigenes Leben zunächst danach. Hierdurch erhält sein Leben eine sinnvolle Bedeutung.
Das Kind entwickelt also seine eigene Weltsicht aus der Weltsicht des familialen Mikrokosmos im Kontext einer sozialhistorisch-kulturellen Gesellschaftlichkeit. Aus seiner faktischen Abhängigkeit und aus dem natürlichen Gefühl der Zugehörigkeit heraus entwickelt es seine Loyalität zur Herkunft, zu seinem Herkunftssystem. Durch die für Kinder und später auch für die Jugendlichen so wichtigen Erfahrungen mit den Beziehungsqualitäten der Bindung und Verbundenheit, der Zustimmung und Zugehörigkeit sowie der Ablösung und des Getrenntseins lernen die jungen Menschen ihre Kommunikations- und Beziehungsgestaltungsmöglichkeiten zu erweitern und zu vervollständigen.
Jeder Tag ist voller Lernen, und mit zunehmendem Alter und zunehmender Reife wird jedes Handeln zum Ausdruck gelebter Erfahrungen. So ist es möglich, sich zu verselbstständigen und das eigene Handeln selbstbestimmt und selbstverantwortlich als Ausdruck der entwickelten Persönlichkeitspotenziale im interaktionalen Miteinander einzusetzen.
Menschwerdung findet als ständiges Kontinuum in mehreren Phasen statt. In jeder Phase kann sich die vorhandene Weltsicht und lineare Epistemologie wandeln und sich den neuen persönlichen Gegebenheiten anpassen. Oft passiert es jedoch, dass sich die inneren Glaubenssätze, die Leitmotive und die Regeln als Steuerungsmittel der Selbstorganisation nicht in gleicher Weise transformieren, wie es den persönlichen und sozialen Gegebenheiten angemessen wäre. Es werden antiquierte Orientierungen (Mythen) zur Grundlage von Handlungen in einer späteren Entwicklungsphase beibehalten, die den Aktionsradius eher hemmen als erweitern. Regeln aus der Kindheit – dort sehr wichtig und unverzichtbar – werden auch im Erwachsenenalter nicht hinterfragt, sie werden sogar unbewusst und ungewollt zum Maßstab der Lebensgestaltung.
Der Preis, der hierfür zu zahlen ist, sind Einschränkungen, Hindernisse, Erschwernisse, Verhinderungen, Aufschieben, Schuldgefühle, körperliche Symptome, Entscheidungsschwierigkeiten, Ambivalenzen, Unentschlossenheit, psychosomatische Reaktionen, Verzicht, Lebensunlust, Antriebsarmut, Verweigerung und eine Vielzahl von Krankheiten. Es fehlt an den Möglichkeiten oder Fähigkeiten, sich altersgemäß zu positionieren, sich anderen so zuzumuten, wie man ist.
Viele Klienten, Patienten und Kunden, die mich im Laufe meiner 30-jährigen Praxistätigkeit als Psychotherapeut, Berater, Supervisor und Coach aufgesucht haben, haben mit Problemen der angemessenen Organisation der Selbstorganisation zu kämpfen (wobei von meiner Seite aus nicht festgelegt wird, was angemessen ist!). Und der Begriff »kämpfen« ist hier wirklich wörtlich zu nehmen: Für viele dieser Menschen war oder ist es ein teilweise bitterer Kampf um Zustimmung oder Ablehnung, um gut oder böse, richtig oder falsch, um gesund oder krank und um Tod oder Leben. In einem gemeinsamen Such-Finde-Prozess arbeite ich mit dem Klientensystem meistens so, dass sich das aktuelle Problem für sie zu einer vorteilhaften und nützlichen Transformation des bisherigen Glaubenssystems über sich selbst und ihre relevanten Kontexte entwickeln kann.
3.1. Die Teile und das Ganze
Als System wird eine vom Betrachter definierte Ansammlung von Teilen (Systemelemente) bezeichnet. Diese Systemelemente stehen in einem mehr oder weniger definierten Beziehungszusammenhang zueinander. Sie bilden in ihrer Konfiguration das Abbild des Selbstkonzepts. Die Qualität der Beziehungsgestaltung der einzelnen Elemente untereinander wird realisiert durch die Art und Weise der eingesetzten Steuerungsmittel. Zu untersuchen ist hierbei die Frage, wie eine optimale Anordnung der verschiedenen Systemelemente eines selbstorganisierenden Systems zu gestalten ist, um die Absichten dieses Systems in Beziehung zu sich selbst und zu seinen relevanten Umwelten zu realisieren.
Die Welt der persönlichen Eigenschaften hat jeweils ungeahnte Dimensionen. Was wir zeigen oder auch von anderen zu sehen bekommen, ist jeweils nur die Spitze des Eisbergs. Was jemand von sich zeigt, wird in Form einer Art Oberflächenstruktur dargestellt und veröffentlicht und für die Außenwelt wahrnehmbar. Wie die Person darüber hinaus jedoch wirklich ist, das unerschöpfliche Reservoir an menschlichen Potenzialen und Ressourcen, ist zunächst organisiert in einer Art Tiefenstruktur, die je nach Maßgabe der aktiven Selbststeuerung zur Geltung kommen kann (darf) oder auch nicht.
Auch ein Warenhaus wird nicht das gesamte Warensortiment im Schaufenster ausstellen, sondern nur eine Auswahl, von der angenommen wird, dass sie das nötige Interesse weckt, um die Betrachter und Kunden ins Warenhaus zu locken. Im Inneren wird dann eine sehr große Auswahl an unterschiedlichen Waren angeboten, und gleichzeitig befindet sich ein noch größerer Bestand in den Lagern des Warenhauses.
Betrachtet man eine Person mit einer systemischen Brille, dann sehen wir nicht eine Person so, wie sie ist, sondern so, wie wir sie sehen. Gleichzeitig sind wir uns sicher, dass genau das etwas ist, was jedem Menschen zu eigen ist: die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung. Hiermit können wir uns ein Abbild der äußeren Realität machen und gleichzeitig die äußere Realität subjektiv bebildern und sinnlich-emotional einfärben.
Die universellen Subsysteme
Betrachten wir zunächst die universellen Subsysteme (Gruppierungen von Anteilen des gleichen Typus) des Menschseins, die jedem Menschen vertraut und bekannt sind und zur Verfügung stehen, ob man will oder nicht.
Der Körper, das Leibliche
Es gibt keine Erfahrung ohne das Körperliche. Der Körper macht erst das Leben möglich, ist sozusagen der Ausdruck des Lebendigen. Das Wesen des Menschen, sein innerstes Selbst, ist im Körper verankert. Ob man sich wohlfühlt in seiner Haut oder nicht, spürt man immer zuerst auf der körperlichen Ebene. Alle Sinneskanäle sind körperlich, der Stoffwechselprozess ist ein körperlicher Vorgang. Auch die Gefühle zeigen sich als Zustand körperlicher Befindlichkeit. Handeln ist ohne die Beteiligung des Körpers undenkbar, Kommunikation ebenso. Ein lebender Körper unterscheidet sich von einem Leichnam durch die Leben digkeit. Hierdurch erhält der Körper seine Ausstrahlung, seine Wirkung und Resonanz im menschlichen Miteinander.
Was aber machen wir, wenn eine Situation uns bedrohlich erscheint? Wir halten die Luft an, atmen gepresst und verkrampfen. Atmen wir wieder frei durch, dann können wir die Aufregung spüren und sind wieder lebendig und handlungsfähig.
Im Körper manifestiert sich die Integrität des Selbst, der Körper ist die energetisierte Manifestation des Lebens.
Die Wahrnehmung
Zu den Sinneswahrnehmungen gehören Sehen, Hören, Empfinden, Riechen und Schmecken. Alle Sinneskanäle sind Tore zur Außenwelt, zum Kontext. Hier findet der Informationsaustausch statt, und wir können uns orientieren und schließlich entscheiden, aber auch genießen!
Die Emotionalität, die Welt der Gefühle
Dieses Subsystem stellt viele Menschen vor eine immer wiederkehrende Herausforderung. Denn oft ist die Gefühlslage eine andere als der wünschenswerte Zustand. Diese wertvolle und zuverlässige Informationsquelle wird aber häufig gegen das Gefühl selbst gerichtet nach dem Motto: Der Überbringer einer schlechten Botschaft muss für diese Botschaft büßen. Aber auch gute Gefühlslagen haben es oft nicht leicht und müssen um ihre Existenz bangen, wenn die Selbstannahmen und die Erwartungen anders programmiert sind.
Das Wissen, die kognitiven Fähigkeiten
Daten, Fakten und Informationen werden zu Wissen verarbeitet und stehen dem System zur Bewältigung der verschiedensten Aufgaben im Leben zur Verfügung. Sachbezogenheit, Rationalität und Logik werden ebenso den kognitiven Fähigkeiten zugeordnet.
Der Stoffwechselprozess
Dieser biologisch-physiologische Prozess ist von großer Bedeutung für den Lebensrhythmus. Ernährung (Ess- und Trinkgewohnheiten, Suchtmittel, Medikamente usw.), Verdauung und Ausscheidung auf der einen Seite, Atmung, Schlafgewohnheiten und nicht zu vergessen Reifungs- und Alterungsprozesse auf der anderen Seite spielen hierbei eine Rolle.
Die Kommunikation und das kommunikative Handeln
Alles Handeln ist Kommunikation. Man kann nicht nicht kommunizieren. Mit Kommunikation werden gleichzeitig eine Informationsebene, eine Beziehungsebene, ein Appell sowie die Selbstoffenbarung des Kom munizierenden veröffentlicht. Sie stellt somit ein weiteres Tor zur äußeren Realität dar. Durch Kommunikation werden Beziehungsgestaltung und Austausch möglich. Sie ist immer auch das Medium der Selbstpositionierung.
Die Weltsicht, die Spiritualität, der Sinn des Lebens
Dieser Bereich organisiert in unmittelbarer Weise den Bezug des Selbst im Verhältnis zum größeren Ganzen. Hierbei geht es um die Sinngebung für den persönlichen Lebensbezug. Auch die angestrebte Lebenskultur spielt hier mit hinein. Wertevisionen ebenso wie religiöse Glaubensfragen können die individuelle Weltsicht bestimmen und prägen. Allerdings möchte ich auch weitreichende oder tief gehende Alltagserfahrungen wie z. B. die Geburt eines Kindes oder die Begleitung eines Menschen während des Sterbens zur spirituellen Erfahrungsdimension hinzuzählen.
Wir können diese Subsysteme als die Grundausstattung des Menschseins betrachten. Sie stehen jedem Menschen zur Verfügung, sind sozusagen von archetypischer Qualität. Entscheidend für die individuelle Lebensgestaltung ist die Organisation des Zusammenwirkens dieser einzelnen Teilsysteme, wobei ich davon ausgehe, das jeder Bereich wieder eine spezifische Form der Konfiguration seiner Subanteile entwickelt und dem Gesamtsystem Person zur Verfügung stellt.
Praxisbeispiel 1: Arbeit mit den universellen Subsystemen Ein Klient in einer Selbsterfahrungsgruppe äußert den Wunsch, in der Kommunikation mit anderen, vor allem mit Kolleginnen und Kollegen, selbstsicherer zu werden. Er knicke zu oft ein, sagt er, und meint damit, dass er seinen roten Faden in der Argumentation zu schnell aufgebe oder verliere. Es sei für ihn kein Problem des Sprechens oder der Rhetorik. Vielmehr gehe es darum, mehr bei sich zu bleiben und seiner Überzeugung mehr Nachdruck zu verleihen. Ich wähle für sein Anliegen die Arbeit mit den universellen Subsystemen aus und vergewissere mich, dass er damit einverstanden ist, die nun folgende Arbeit mit seinem Thema auf eine lebendige Art und Weise durchzuführen, damit auch seine Kommunikationskompetenz in Zukunft kraftvoll zum Ausdruck kommen kann. Der Klient wählt für jedes Subsystem eine Person aus der Gruppe aus, die diese jeweilige Seite seiner Persönlichkeit verkörpert. Dann binde ich ein langes weiches Seil um seinen Körper oberhalb der Hüften und frage ihn, welches der ausgewählten Subsysteme ihm am nächsten, zweitnächsten, drittnächsten usw. ist. In der angegebenen Reihenfolge werden jetzt alle durch das Seil miteinander verbunden. Der Abstand beträgt jeweils einen bis eineinhalb Meter. Ich teile allen mit, dass sie sich jetzt bewegen sollen – jedes Subsystem nach eigener Vorstellung, also autonom, langsam oder schnell, kooperativ oder konkurrierend, aktiv oder passiv usw., soweit es die Verbundenheit mit den anderen und dem Selbst (dem Klienten) zulässt. Es darf nicht gesprochen werden. Alle Informationen sollen sich aus dem nun sich entwickelnden synchronen Prozess ergeben und in diesen einfließen. Es beginnt eine dynamische Inszenierung der Selbstorganisation der Subsysteme. Durch die Auswahl dieser Methode wird auf Sprache zunächst verzichtet, es regieren und beeinflussen stattdessen die Erfahrungen des Augen blicks.
Jetzt geht es los. Einige der Subsysteme verhalten sich lebendig und aktiv, andere warten erst einmal ab. Manche sind mehr im Zentrum des Geschehens zu finden, andere mehr am Rand. Es verläuft alles gleichzeitig und wirkt dadurch bald chaotisch. Nach etwa 30 Sekunden stoppe ich den Prozess. Jeder soll genau in der aktuellen Position bleiben oder besser: verharren.
Nun frage ich nach den gemachten Erfahrungen. Die Aussagen werden an das Selbst (an den Klienten) gerichtet, und auch seine Erfahrungen sind gefragt. Wichtig finde ich die Frage, ob es Aspekte in diesem Prozess gab, die ihm bekannt vorkommen. Vorher hatte er geantwortet, sein Körper habe ihm auf den Füßen gestanden, und dieses Gefühl habe er öfter im realen Leben (er hat deutliches Übergewicht und isst und trinkt gerne und viel). Auch dass der Stoffwechsel ihm den Blick auf fast alle anderen versperre, ärgere ihn, sei aber typisch, meint der Klient.
Ich frage ihn nach seinen Änderungswünschen und gebe diese als Aufträge an die entsprechenden Subsysteme weiter. Sie sollen sich nun darum kümmern, diese Wünsche im weiteren Verlauf zu realisieren.
Es beginnt die zweite Sequenz, die wieder 30 Sekunden dauert und dann von mir wieder abrupt abgebrochen wird, um Erfahrungen auszutauschen und Informationen zu gewinnen. Daraus ergibt sich der nächste Auftrag des Klienten an die Subsysteme und so fort. Nach maximal fünf dieser kurzen Sequenzen hat sich durch die Anweisungen des Klienten einerseits und durch die Informationen der universellen Subsysteme andererseits die Konfiguration völlig verändert. Das Ergebnis zeigt eine Form, die dem Klienten für sein Anliegen, sein Kommunikationsinteresse selbstsicher und kraftvoll umzusetzen, hilfreich und besser erscheint. In dieser Konstellation des Besseren nimmt er nach und nach Kontakt mit allen Elementen auf und bedankt sich für die Potenziale, die er durch sie erhält. Außerdem teilt er ihnen mit, wie er in Zukunft dafür sorgen wird, die Elemente noch besser in Einklang zu bringen, um sich hierdurch in wünschenswerter Weise positionieren zu können.
Nachdem alle wieder entrollt sind und Platz genommen haben, meldet sich der Klient noch einmal zu Wort, um seine wichtigste Erfahrung mitzuteilen: Er habe erkannt, dass sein leibliches Wohl unter dem bisherigen Motto »das Leben genießen« einen zu hohen Stellenwert erlangt habe. Hier habe er sich etwas vorgemacht und habe nun erkannt, welch großen Reichtum sein Inneres noch zu bieten habe, der bislang ungenutzt geblieben sei. Er wolle in Zukunft mehr aus sich heraus als in sich hinein schöpfen.
Natürlich lässt sich dieses Ergebnis unterschiedlich interpretieren. Für mich zeigt sich in solch einem Prozess immer ein Weg des Klienten zu sich selbst und zu seinem Selbstwert. Diese Erfahrung ist jedoch nicht der Endpunkt eines Entwicklungsprozesses, sondern markiert den Anfang eines Neubeginns.
Der Körper
Auch der Körper kann als eigenes System mit Subsystemen und Teilen angesehen werden. Als Subsysteme können dabei gelten: Organe, Energiefelder, Stoffwechsel, Bewegung, Ausstrahlung und Aura, Atmung, Haltungen usw. Jedes für ein bestimmtes Anliegen definierte Subsystem besteht wiederum aus unterschiedlichen Teilen, die ihrerseits aus dem Blickwinkel des Betrachters eine spezifische Konstellation bilden, sich also als Subsystem selbst organisieren.
So kann es z. B. für die Verbesserung des Wohlbefindens hilfreich sein, das Subsystem Atmung genauer zu betrachten. Atmung als Subsystem des Körpers kann hierbei in die Aspekte Einatmung, Ausatmung, Atempause, flaches Atmen, tiefes Atmen, Atemnot, Asthma, Hyperventilieren, Brustatmen oder Bauchatmen usw. unterschieden werden. Welche Auswahl getroffen wird, ist nirgendwo festgelegt, sondern durch das Thema, das Ziel oder Interesse des Klienten definiert.
Durch die Benennung der einzelnen Teile und ihre Darstellung im Raum wird für den Betrachter der Zugang zu einer bislang verschlossenen Welt ermöglicht: Er kann sich ein Bild der inneren Abläufe seines Organismus machen und aufgrund der hierdurch erlangten Erkenntnisse Einfluss auf diese Abläufe nehmen. Für unser Beispiel heißt dies: Der Klient kann sich als Atmender wahrnehmen und diesen Ablauf entsprechend seiner Zielrichtung neu bestimmen. Er organisiert und gestaltet somit einen Teilaspekt seiner Selbstorganisation neu – und zwar in die für ihn wünschenswerte Richtung.
Übung 1: Körperbild
Sie brauchen Papier und Bleistift, wenn Sie mögen auch Farben. Zeichnen Sie ein Bild Ihres Körper so, wie Sie ihn sich vorstellen – von vorne oder seitlich oder beides. Markieren Sie dann (mit einer besonderen Farbe) die Bereiche, die Sie für die Kraft- und Energiefelder Ihres Körpers halten. Schreiben Sie dazu, wie Sie von diesen Bereichen profitieren, was sie Ihnen geben im Sinne von Ressourcen. Fragen Sie sich, wodurch Ihnen diese Energiebereiche auch in Zukunft erhalten bleiben können.
Dann zeichnen Sie Ihre körperlichen Schwachpunkte ein. Überlegen Sie sich, welche Informationen Sie hierdurch gewinnen und ob Sie in Zukunft etwas ändern werden. Dann betrachten Sie wieder Ihr Körperbild und stellen die Frage nach der Ausstrahlung: Was verleiht Ihrem Körper Glanz, Wärme, Aura? Und schließlich können Sie der Frage nach der Haltung nachgehen: Welche Haltung stellen Sie fest und was bedeutet diese Erkenntnis für Sie?
Vielleicht wird aus der Beschäftigung mit dem Körperbild deutlich, was Sie Ihrem Körper und somit unmittelbar sich selbst Gutes tun können, um etwas zu verbessern an Ihrer körperlichen Befindlichkeit oder Ihrer Vitalität und Gesundheit insgesamt.
Als Visualisierungstechnik bietet sich auch der Gebrauch von Holzgliederpuppen an, die durch die bewegliche Einstellung und Veränderung der Gliedmaßen immer wieder neue Ausdrucksformen annehmen können.
Die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit
Die emotionale Seite des Seins ist ebenso wie die leibliche eine sehr komplexe. Deshalb lassen sich auch hier wieder Subsubsysteme definieren und auf ihre jeweilige Teilekonfiguration hin untersuchen.
Ich möchte zunächst drei Gefühlswelt-Bereiche (vgl. S. Widmer, 1989) unterscheiden: die Welt der unterdrückenden Gefühle, die Welt der unterdrückten Gefühle und die Kerngefühle der Liebe.
Zum Bereich der unterdrückenden Gefühle gehören solche, die aufgrund ihrer Funktionalität Bedeutung gewonnen haben, aber den emotionalen Erlebnisspielraum gleichzeitig einschränken. Es handelt sich hierbei um von subjektiven Erwartungen geprägte Erlebniszustände, die alle aus einer negativen Erwartungs- und Betrachtungsweise entstanden sind. Eine solche Erwartung könnte lauten, dass Anerkennung, Wärme oder Liebe nur zum Preis hoher Leistung zu erhalten ist (»Ich werde den anderen schon beweisen, was ich kann.«).
Zu den unterdrückenden Gefühlen zählen demnach Ehrgeiz, Anstrengung, Neid oder Gier. Mit diesen emotionalen Haltungen lassen sich Gefühle wie Freude, Zufriedenheit, Ruhe oder Zuversicht mühelos dominieren, sodass diese weniger oder keine Präsenz mehr erzeugen. Depression (»Alles – also die Umstände! – ist so hoffnungslos!«) unterdrückt die Trauer, den Schmerz, die Energie für Verbesserungen und die Sehnsucht nach Liebe. Hass (»Die anderen sind schuld.«) unterdrückt die Gelassenheit, das Miteinander, die Abgrenzung, die Zustimmung, die Trauer und den Frieden. Neid unterdrückt das Zulassen von Unterschiedlichkeiten. Faulheit und Bequemlichkeit (»Ich kann nicht, weil...«) unterdrücken die Initiative, die Motivation und Neugier. Trotz (»Das habe ich noch nie so gemacht« oder »Das habe ich doch nicht nötig.«) wirkt so ähnlich wie Faulheit und setzt die spielerische Leichtigkeit, Experimentierfreude und Gelassenheit schachmatt usw.
Unterdrückende Gefühle haben die Absicht zu kontrollieren und hierdurch für eine scheinbare Sicherheit oder besser noch: Funktionalität im Psychohaushalt zu sorgen. Das schafft Berechenbarkeit und Planbarkeit. Doch der Preis ist hoch, denn neue Herausforderungen, die durch Anpassung und/oder Einflussnahme, also durch permanentes Lernen und Erfahrungen sammeln, zu meistern sein könnten, werden hierdurch boykottiert. Es wird versucht, mit den bisherigen Mitteln der Selbstorganisation auf Neues zu antworten, was dazu führt, sich mehr und mehr anzustrengen oder letzlich aufzugeben, anstatt neue Wege zu gehen und sich selbst wichtig zu nehmen. Sie können durch die folgende Übung vielleicht feststellen, wie viel Kraft und Zähigkeit im Bereich der unterdrückenden Gefühle vorherrschen. Diese Zustände werden genährt durch Annahmen wie: »Ich muss ... Ich kann doch nicht ... Ich darf auf keinen Fall ... Ich sollte aber unbedingt ...« usw. Hierbei bestimmt oftmals ein umfassendes Regelwerk die operative Seite des Seins.
Das Zulassen unterdrückter Gefühle wie Trauer und Lebensfreude, Verletztheit oder Vertrauen ist für viele Menschen ein Wagnis, denn hierdurch können Veränderungen eingeleitet, Neues kann erfahren werden.
Die Betrachtung der bestehenden Organisation der Selbstorganisation bietet die Möglichkeit einer Bestandsaufnahme. Es kann festgestellt werden, auf welche Weise, mit welchen Annahmen über uns selbst wir versuchen, etwas zu kontrollieren und zu beeinflussen, was nicht wirklich beeinflussbar ist. Was wir jedoch immer und jederzeit beeinflussen können, ist unsere Selbstorganisation. Konkret bedeutet das, negative Erwartungen, Annahmen und Abwertungen zu transformieren in neue Haltungen sich selbst gegenüber. Sinnvoll und wünschenswert sind hierbei Haltungen, die mit Zuversicht und Selbstvertrauen in die eigenen Kompetenzen, Potenziale und Ressourcen verbunden sind – besonders dann, wenn man noch nicht den Grad des Perfektionismus erreicht hat, den man zuvor versuchte, mit der Brechstange des Heraufbeschwörens (»Ich darf doch nicht ...«) und Manipulierens (»nur wenn, dann ...«) vorzutäuschen. Dieser Prozess, der die ewigen Kontrollinstanzen des Nichtkontrollierbaren loslässt und in eine Haltung der Offenheit verwandelt, der Wahlmöglichkeiten, der Intuition und des Vertrauens, ist wie eine Neugeburt, oder besser: wie eine Wiedergeburt des Selbst, der Selbstbestimmung.
Im Bereich der Selbstgefühle entwickeln sich das Tun und Sein aus einer Haltung, einer Anschauung, einer Wertigkeit, einem subjektiven Sinn, den Heinz von Foester mit dem Satz charakterisierte: »Es steht uns immer frei, uns nach jener Zukunft auszurichten, die wir erschaffen wollen.« Hier regiert nicht länger der selbst auferlegte (und noch nicht abgelegte) Zwang, in bestimmter Weise handeln zu müssen, sondern die Freiheit, aus eigener Überzeugung und Selbstachtung heraus zu wirken.
Jetzt wird es möglich, sich so zu erkennen, wie man ist – und nicht, wie man sein sollte – und sich selbst so anzunehmen mit allem Drum und Dran, mit allen Fähigkeiten und Fehlern, mit allen wohltuenden und schmerzhaften Gefühlen, mit allen klaren und verrückten Gedanken, mit seiner Fantasie und Intuition, mit seiner Vollkommenheit und Unvollkommenheit und natürlich mit seiner Einzigartigkeit. Dieser Zustand (die Kerngefühle der Liebe) kann einen inneren Frieden erzeugen, der einhergeht mit der Liebe zu sich selbst und gleichzeitig das Herz öffnet für andere und anderes.
Übung 2: Meine Welt der Gefühle
Nehmen Sie sich ein Päckchen mit kleinen Karteikarten und beschrif ten Sie diese mit Begriffen aus der Gefühlswelt. Die hier genannten
Begriffe verstehen Sie bitte als ein Angebot und eine Auswahl aus der immensen Menge an Gefühlsbereichen und -zuständen. Ergänzen Sie nach eigenem Selbstverständnis weitere Gefühlsbereiche und ordnen Sie diese den drei Bereichen zu.
Zum Bereich der unterdrückenden Gefühle (des Ego) zählen:
Neid, Gier, Sarkasmus, Hass, Herrschsucht, Ironie, List, Misstrauen, Schuldgefühle, Dummheit, Ehrgeiz, Unnachgiebigkeit, Unersättlichkeit, Verliebtheit, Eifersucht, Depression, Faulheit, Rechthaberei, Streitsucht, Kontrollieren
Zum Bereich der unterdrückten Gefühle, den eigentlichen Gefühlen des Selbst gehören:
Angst, Hilflosigkeit, Schmerz, Lebensfreude, Zwiespalt, Zweifel, Verständnis, Unerwünschtsein, Gelassenheit, Sinnlosigkeit, Versöhnung, Trauer, Humor, Ohnmacht, Verlassenheit, Ruhe, Lust, Verlorensein, Sanftheit, Scham, Würde, Verwirrung, Unerwünschtheit, Vertrauen, Einsamkeit, Neugier
Zum Bereich der Kerngefühle der Liebe werden angenommen:
Tiefe, Schönheit, Wahrhaftigkeit, Geborgenheit, Energie, Friede, Selbstwert, Demut, Dankbarkeit, Geduld, Klarheit, Freiheit, Weite, Muße, Ganzheit, Hingabe, Kraft, Intelligenz, Stille, Wachheit, Getragensein, Zugehörigkeit,
Legen Sie nun die beschrifteten Karten in drei verschiedene Kreise. Betreten Sie den ersten Kreis, also den Bereich der unterdrückenden Gefühle, und finden jetzt heraus, welche der Begriffe Ihnen vertraut erscheinen und welche Ihnen eher unbekannt sind. Nehmen Sie die Karten mit den für Sie wichtigsten Bezeichnungen zu sich und gehen Sie nun von Karte zu Karte und überlegen sich, welche Bedeutungen und Auswirkungen der jeweilige Zustand für Sie hat. Finden Sie dabei heraus, was anders wäre, wenn dieser Zustand für Sie keine Wichtigkeit mehr hätte, da Sie sich noch mehr Ihren Selbstgefühlen anvertrauen würden.
Gehen Sie nun probeweise in den zweiten Kreis und schauen sich alle Karten dort an. Lassen Sie die Begriffe auf sich wirken. Was ist Ihnen vertraut oder bekannt? Welche Bezeichnungen sind Ihnen weniger bekannt oder ganz unbekannt? Fragen Sie sich, was anders sein könnte, wenn diese Gefühle noch mehr Bedeutung gewinnen könnten. Hätte dies Auswirkungen auf die unterdrückenden Zustände? Eher wünschenswerte oder eher verschlechternde?
Zwischen den beiden Kreisen besteht eine Verbindung, so etwas wie ein Tor mit der Überschrift »Tod des Ego – Wiedergeburt des Selbst«. Hiermit ist gemeint, dass wer durch das Tor geht und sich den wahren Gefühlen zuwendet, die Welt des Funktionalen und des Funktionierens verlässt und sich der Welt der authentischen Selbstgefühle zuwendet (so wie man sie schon einmal als Säugling und Kleinkind erlebt hat) und diese wahrnimmt: Schmerz ebenso wie Freude, Stärke ebenso wie Ohnmacht, Vertrauen ebenso wie Hilflosigkeit etc.
Manchmal ist es wichtig, mehrmals zwischen dem ersten und dem zweiten Kreis zu wechseln, um sich klar zu werden über den Wandel, der anstehen könnte. Es gilt zu überprüfen, ob man sich wirklich den Selbstgefühlen zuwenden will und sich damit vom Manipulieren, vom Sich-abhängig-Machen, vom Perfektionismus befreien möchte. Wichtig ist für Therapeuten in dieser Phase, absichtslos zu bleiben und beiden Seiten gegenüber eine ambivalente Haltung einzunehmen. Es hilft dem Klienten nicht, sich für das eine und gegen das andere überzeugen zu lassen.
Nachdem Sie probeweise beide Kreise mehrmals besucht und erkundet haben, können Sie – falls gewünscht – die Form der Kreise zu Ovalen verändern, die jeweils am Ende geöffnet sind und somit den Zugang zum nächsten Bereich ermöglichen.
Kommen Sie nun in den dritten Kreis und betreten den Bereich der Kerngefühle der Liebe. Überlegen Sie sich beim Betreten des dritten Kreises, welche Erfahrungen Sie bislang gemacht haben mit Ihren Gefühlen des Alleinseins, der Einsamkeit und der Sehnsucht nach Liebe. Die Frage, die hier zu stellen ist, kann lauten: »Bin ich mir selbst genug? Nehme ich mich so an, wie ich bin? Stimme ich mir zu? Achte ich mich mit allen Facetten meiner Persönlichkeit?«
Wenn Sie sich im dritten Kreis befinden, dann ändern Sie jetzt auch seine Form zu einer Art Oval mit der Öffnung hin zum zweiten Oval und blicken Sie zurück auf den Weg, den Sie gegangen sind. Gehen Sie jetzt im Zeitlupentempo noch einmal zurück zum Ausgangspunkt und von dort langsam zurück in den Bereich der Kerngefühle der Liebe. Lassen Sie alles auf sich wirken. Und machen Sie sich klar, dass kein Mensch sich immer im dritten Bereich befindet, sondern dass es im Leben immer wieder starke Schwankungen geben kann und wird. Das Leben ist eben in Bewegung. Insofern können auch wir uns in unterschiedlichen Lebenssituationen in unterschiedlichen inneren Zuständen befinden. Wenn wir jedoch den Weg kennen und die Herausforderungen annehmen, von einem Zustand in einen besseren zu wechseln, dann haben wir die Chance, unser Leben selbst zu gestalten und unsere Selbstorganisationspotenziale wirklich zu nutzen.
Liebe ist etwas, das von ganz allein kommt. Sie kann nicht erzwungen, nicht gefordert werden, und man kann sie keinem anderen aufdrängen, der sie nicht will. Liebe wird hier verstanden als der Austausch von Geben und Nehmen. Nur wer sich selbst liebt, so meine Annahme, kann Liebe geben. Liebe ist aus meiner Sicht die energetischste und konzentrierteste Form der menschlichen Selbstorganisation: Sie macht frei und verbindet gleichermaßen, sie ist selbstgesteuert und dennoch absichtslos, sie gibt und sie nimmt, sie macht stark und lässt Schwäche zu, sie kann ein Gefühl sein, ein Energiezustand und eine Vision gleichermaßen.
Walther Cormann ist Diplom-Psychologe und Diplom-Betriebswirt: Er arbeitet seit 1979 selbständig als Psychotherapeut, Berater, Coach, Supervisor und ...
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