Charles Bovary, Landarzt

Porträt eines einfachen Mannes
Buchdeckel „978-3-608-93329-1
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Nach der Einschätzung seines Autors selbst sollte dieses Buch Amérys »spannendstes « und »leichtestes« sein. Es erschien im August 1978 – und wurde von der Kritik weitgehend verkannt. Der »Bovary« war Amérys letztes Buch.

In diesem Dialog mit einer literarischen Figur, dem Ehemann der »Madame Bovary« von Flaubert, geht es Améry um die soziale und ästhetische Ehrenrettung des verkannten Individuums, des bürgerlichen Subjekts. Es ist eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Sartres Flaubert-Interpretation, wie sie in dem Monumentalwerk »Der Idiot der Familie « entwickelt wird - ja mehr noch: Es ist der Versuch der endgültigen Loslösung vom bewunderten intellektuellen Vorbild.
Diese Zusammenhänge, die ins Zentrum des philosophischen und ästhetischen Denkens von Améry führen, werden in diesem Band erstmals eingehend dargestellt. Texte zu Sartre und Flaubert begleiten den Anmerkungsteil. Deutlich wird, welch hohen Anspruch Améry mit diesem Buch (und seinem öffentlichen Erfolg) verband und welchen Stellenwert es für Améry als literarischen Autor hat.

Der »Bovary« ist auch Teil der Améry-Gesamtausgabe.

Leseprobe

Jean Améry
Charles Bovary, Landarzt


Totenklage
Ich will, daß man sie in ihrem Brautkleid bestatte, in weißen Schuhen, mit dem Brautkranz. Ihr Haar soll man über ihre Schultern breiten. Drei Särge, einer aus Eiche, einer aus Mahagoni, einer aus Blei. Und daß man mir nicht zuspreche: ich werde Kraft finden. Über das Ganze ein großes Stück von grünem Samt. Ich will es. Es geschehe.
So hatte ich es niedergeschrieben und so war es, ehe … Dann aber schien es mir, als würde der Sarg nicht aufhören wollen, tiefer einzusinken in die Erde. Und ich hätte mit ihm hinein sollen. Wo anders gehörte ich denn auch hin? Die Leute waren mit mir, sie waren gut. Monsieur Homais tröstete mich, was für ein wackerer Mann und Freund. Er hielt die Totenwacht zusammen mit Abbe Bournisien, und am Ende stritten sie nicht mehr, wie sonst immer. Der Pfarrer hat mir verziehen, daß ich in meinem Schmerz ausrief: Ich verabscheue ihn, Ihren Gott! Ein guter Mann. Lauter gute Menschen um mich, Madame Tuvache, Madame Lefrançois; sogar Lheureux, der Händler und Wucherer, der mich um Hab und Gut brachte, war da und sprach mir sein Beileid aus. Ich trage ihm nichts nach, er mußte eben zu seinem Geld kommen. C’était la faute de la fatalité.
– Berthe? Komm mein Kind, weine dich aus. Mama kommt nicht wieder, so weine mit mir, es tut uns beiden gut. Deine Strümpfe sind zerrissen, mein armes kleines Mädchen, und die Puppe in deiner Hand ist zerrissen und Mama kehrt nicht mehr heim. Keiner der guten Menschen hat sie retten können. Psst. Weine, aber sprich nicht. Ich weiß, du hattest Angst. Sie schrie ja so herzzerreißend, deine Mutter, sie war so bleich, ihr Gesicht war von kaltem Schweiß bedeckt. Ihre Finger waren verkrampft, braune Flecken erschienen auf ihrem Körper. Sei ruhig, Kind, es ist alles vorbei, geh in den Garten, der schon verwildert ist, weil niemand ihn pflegte, es war kein Geld mehr da. Aber daß keiner von den guten Menschen Rat wußte, will mir noch nicht in den Sinn. Doktor Canivet, ein gelehrter Mann, fand kein Mittel. Doktor Lariviere, mein Professor, eine Leuchte der Wissenschaft, wie Homais ihn nennt, war so machtlos wie ich, und ich bin nicht einmal ein winziger Funke der Medizin. So sehr habe ich gezählt auf ihn, der so viele gerettet hat. Als er angefahren kam, da hätte das Erscheinen eines Gottes keine größere Bewegung hervorrufen können. Sein Blick, der schärfer schneidet als ein Chirurgenmesser, hat alles sofort erkannt, und vergebens schrie ich: Finden Sie irgendetwas, ihr zu helfen! Seine sehr schönen Hände bewegten sich kaum. Courage, mein Junge, sagte er, es ist nichts mehr zu machen. Und dann speiste er mit Canivet bei Homais, während sie mir unter den Augen hinstarb. Gute Menschen, aber Menschen eben nur und machtlos vor dem Schicksal wie ich, Charles Bovary, Landarzt, der selber so oft hilflos war vor einem, dem der Sirup wie Krusten um den Mund stand und der sich im Fieber zu Tode hustete. Charles Bovary, Landarzt. Ich. Was hätte ich tun können, wo die Leuchten der Wissenschaft dem Schicksal seinen Lauf lassen mußten? Als sie das Arsenpulver genommen hatte, weiß nicht, wie sie es sich verschaffte, da war es schon zu spät. Warum? Warum nur? Ich habe sie gefragt, als die Krämpfe sie schüttelten, wieder und wieder: Warst du nicht glücklich? Ist es meine Schuld? Ich habe doch alles getan, was ich konnte. Und Emma war liebevoll, trotz der Schmerzen, die sie litt. Niemand weiß, wie sehr. Sie strich mir langsam übers Haar und sagte: Ja, es ist wahr, du bist gut. Ich möchte vors Haus laufen und es hinausschreien, daß ganz Yonville es hört: Sie hat mich geliebt, und im Sterben mehr als je zuvor! Ich müßte es Homais sagen, der vor den Kosten für die prächtige Bestattung gewarnt hat. Was weiß er! Der Samt, meinte er, das sei doch … Aber hat er sie geliebt? War sie zu ihm zärtlich in ihrem Todeskampf? Das ganze Dorf, der ganze Landkreis sollte es wissen und meine Mutter sollte es wissen, die nie ein gutes Wort für Emma fand, daß sie mich liebte im Schweiß und im Schüttelfrost! Aber es schickt sich nicht, daß man sein Leid und seinen Triumph hinausbrüllt. Ich bin kein besoffener Bauer. Ich bin der Arzt Charles Bovary! Würde, zum Donnerwetter! sagte Homais, als ich weinend Emmas Vater umarmte. Und ich versprach, tapfer zu sein. Ich bin es auch. Ich klagte genug, jetzt muß ich es allein abmachen. Ich darf den Leuten nicht lästig fallen mit meinem Elend. Sie haben manches für mich getan, Homais hat sogar den Grabstein mit mir ausgesucht und die Inschrift: Sta viator! amabilem conjugern calcas; er ist ein guter Lateiner. Er tut, was er kann, ich darf mich nicht beschweren, wenn er sich seltener blicken läßt, mit seinen Salben und Tränken hat er auch Last genug. Und was hülf’ es mir, wenn das ganze Département Seine-Maritime vor meinem Haus zusammenströmte? Und was hülf’ es, wenn alle Kirchen der Normandie Sturm läuteten, wenn alle kleinen Mädchen in schneeweißen Kleidern wie zum Fronleichnamsumzug an ihr Grab wallten und wenn alle Banquiers von Rouen ihre Louisdors über mich ausschütteten?
Emma, wo bist du? Liegst wieder auf deinem Bette und liest Romane aus der Leihbibliothek in Rouen? Machst einen Spaziergang in Richtung La Huchette? Reitest aus mit dem gefälligen Herrn Rodolphe? Emma! Aber ich rief Adieu, Adieu und sandte dir Kußhände nach ins Grab. Du bist tot, ein Kadaver wie irgendeiner, den ich als Student sezieren mußte. Dabei habe ich doch noch das Rauschen deines weiten Faltenrocks im Ohr, das Knistern der Seide, wenn du eines deiner schönen Kleider ablegtest. […]

Klett-Cotta
3. Auflage, 162 Seiten, Gebunden
ISBN: 978-3-608-93329-1

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