Auch am dritten Tag meiner jüngsten Reise nach Prag ging ich für Stunden ins Café Slavia. Auch an diesem letzten Tag meines Aufenthalts wollte das Glück es, dass derselbe Platz wie an den Tagen zuvor frei war: eine jener mit dunklem Leder gepolsterten hüfthohen Eckbänke aus edlem Holz, davor ein rechteckiger Tisch, und dann der unverstellte Blick durch die großen Fenster hinaus − über die Moldau hinweg, auf die Kleinseite der Stadt, mit dem über allem thronenden Hradschin, überragt nur noch von St. Veit, dem Gotteshaus der Prager Erzbischöfe. Auch der für mich zuständige Kellner war derselbe geblieben. Nicht nur, dass er sich freute, mich an diesem Wochenende ein drittes Mal wiederzusehen, er wusste auch noch, was ich wünschte, ich musste es ihm lediglich bestätigen, was ich mit ihm schmeichelnder Begeisterung tat. Schnell brachte er den Café crème und trug sogleich danach einen Viertelliter Chardonnay herbei, der sich im Verlauf meines Aufenthaltes verdreifachte, aber auch das war nur eine Reprise. Dann fragte er, während er den Wein aus der Karaffe ins Glas goss, ob ich auch schon den Salat serviert haben möchte und schob, noch leiser, ein "Cesar?" hinterher. Zwischen beiden Wörtern, die der Speise ihren Namen geben, ließ er eine Idee Zeit verstreichen. Es war eine Kunstpause, und die Dehnung bewies nur sein gutes Erinnerungsvermögen. Später, sagte ich ebenso leise und dankte für das Einschenken des Weines. Er antwortete mit einer angedeuteten Verbeugung, dann zog er sich lautlos zurück, dabei umspielte ein Lächeln seinen Mund. Für einen Moment schloss ich die Augen und genoss das gedämpfte Stimmengewirr der Gäste, das in so vielen verschiedenen Sprachen unter der Decke des eleganten Raumes, der in seinem Grundriss einem mächtigen L gleicht, wie ein weit entferntes Gewitter schwebte, hörte schwach Geschirr klappern, eine elektronische Kasse rattern. Als ich meine Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf das berühmte Bild im hinteren Teil des Cafés: Es zeigt in unspektakulärem Grau und Braun nichts anderes als einen Ort wie den, in dem ich gerade saß, in seinem Zentrum aber nur einen einzigen Gast. Das Bild wäre zu übersehen, stünde in seinem wahren Mittelpunkt nicht jedoch etwas ganz anderes: ein Geist. Ein Geist von giftgrüner Farbe und höchst verführerischer Gestalt. Der Mann am Tisch ist sein Opfer, ein Trinker, und das, was er trinkt, ist − es leuchtet mit tödlicher Aura in einem Glas, das vor ihm steht, und sitzt zugleich als nackte junge Frau aus grünlich-durchsichtigem Nebel lasziv auf der Kante des Möbels − Absinth. Ich habe noch nie Absinth getrunken, aber ich weiß, dass er wieder zurückgekehrt ist: wie eine süchtig machende Mode, die lange verschwunden war. Und nun ist sie erneut da, so chic wie einst; aber schluckt man ihn heute wirklich so exzessiv wie damals? Absinth, dachte ich, was für ein schönes Wort für ein so abgründiges Nass, und trank mit Genuss einen ersten Schluck von meinem kühlen Chardonnay. Dann schnitt ich meine Zigarre an, befreite sie vorsichtig von ihrer Bauchbinde und begann mit der Zeremonie des Entzündens. Seit drei Tagen immer wieder dasselbe erregende Spiel, und seit drei Tagen sagte niemand, noch bevor es begann: Rien ne va plus. Rauchen verboten! Ja, in Prag darf man in Restaurants noch rauchen, und fast hat es den konterrevolutionären Charme jener "2000 Worte", die vor einem halben Jahrhundert den greisen Revolutionären zu Moskau, Warschau, Sofia, Budapest und Berlin die letzte Legitimation dafür lieferten, endlich ihre Soldaten, Panzer und Flugzeuge in Bewegung zu setzen, um dem Freiheitsspuk in Prag für lange Zeit ein Ende zu bereiten. Heute sitzen, ging ich den eingeschlagenen Gedankenweg weiter, die neuesten alternden Revolutionäre zwar weit im Westen, kurz vor dem Ärmelkanal, aber dass in den Restaurants zu Prag noch immer blauer Dunst aufsteigen darf, treibt sicherlich ganze Kommissariate in der Welthauptstadt des Allerneusten Menschen um, in unzähligen Sitzungen zu prüfen, wie man dieses Mal das interventionistische Theorem von der begrenzten Souveränität im Falle Prags anwenden könnte, ohne Blutvergießen zwar, aber genauso wirkungsvoll.
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