MERKUR

Heft 12 / Dezember 2011

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Horst Dreier

Rechtskolumne . Auf der Suche nach dem deutschen Nationalfeiertag

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Zitate:

Der 9. November ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein Schicksalstag der Deutschen: 1918 Revolution, 1923 Hitler-Ludendorff-Putsch, 1938 "Reichskristallnacht", 1989 Mauerfall. Nun meinen manche, diese Mehrfachbesetzung könne sogar von Vorteil sein, indem sie eine volkspädagogisch durchaus "wünschenswerte Ambivalenz" (Wolfgang Reinhard) von Feiertagen demonstriere und sozusagen lebendig werden lasse. Aber das scheint mir nicht recht zu Ende gedacht. Man muss sich doch nur die Reaktionen in Israel und den USA ausmalen, wenn in Zukunft am 9. November Bilder von fröhlichen, die Wiedervereinigung feiernden Menschen in Deutschland um die Welt gehen − am 9. November, dem Tag brennender Synagogen, gedemütigter Inhaber jüdischer Geschäfte, aus ihren Wohnungen von SA-Horden geprügelter Männer, Frauen und Kinder; jenem Tag, an dem Hunderte Juden den Tod fanden und Zigtausende in KZs verschleppt wurden. Das kann von niemandem ernsthaft gewollt sein. Der 9. November ist eine erinnerungspolitische Hydra. Er lässt sich nicht zu einem zahmen Ambivalenz-Schoßhündchen domestizieren. Wie sollte einer solchen Mehrdeutigkeit denn auch praktisch Ausdruck verliehen werden? Richard Schröder hat es schon vor Jahren als "verrückte Idee" bezeichnet, "einen Tag seiner Ambivalenz wegen zum Feiertag zu erheben", und mit Gespür für lebenspraktisch mögliche und unmögliche Vollzüge hinzugefügt: "Wie sollen wir denn den 9. November begehen? Tragen wir dann dunkel oder hell, dürfen wir lachen, oder müssen wir weinen? Oder das eine vormittags, das andere nachmittags? Alles absurd." Begnügen wir uns also mit dem 3. Oktober − und erinnern wir uns daran, dass das Datum keineswegs ein ganz zufälliges, sondern im Grunde durch den historischen Beschluss der ersten (und letzten) freigewählten Volkskammer in den frühen Morgenstunden des 23. August festgelegtes war und insofern durchaus etwas von den aufwühlenden welthistorischen Ereignissen der deutschen Wiedervereinigung vermittelt. Als kleiner Trost mag hinzukommen, dass auch der 4. Juli der Amerikaner im Grunde gar nicht der Tag war, an dem die Unabhängigkeit verkündet wurde − das hatte bereits die Resolution vom 2. Juli 1776 vollzogen. Und die davon zu unterscheidende Declaration of Independence wiederum ist keineswegs allein am 4. Juli von denjenigen Personen tatsächlich unterzeichnet worden, die später auf den Urkunden erschienen. All dies hat dem 4. Juli als außerordentlich mächtigem Mythos keinen Abbruch getan. Die Wirkkraft eines nationalen Feiertags hängt eben nicht von historischen Details, sondern ganz wesentlich vom Willen zur kollektiven Erinnerung an ein gemeinschaftsstiftendes, mythisch verklärtes Ereignis ab. Daran herrscht in Deutschland ein gewisser Mangel, was nicht unbedingt von Schaden sein muss, sondern womöglich zu einer etwas nüchterneren, wenngleich immer auch schwierigeren Lageeinschätzung befähigt. Amerika, du hast es eben leichter − aber auch besser?

MERKUR Jahrgang 65, Heft 751, Heft 12, Dezember 2011
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Karl Heinz Bohrer, Kurt Scheel, Michael Rutschky, Jonathan Keates, Kathrin Passig, Horst Dreier, Giles MacDonogh, Gerhard Henschel, Uwe Simson, Egon Flaig, Hans Ries, Ulrich Schacht,


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