In den Dörfern in dem Teil von England, in dem ich aufgewachsen bin − eine ländliche Gegend ähnlich jener "France profonde", die zur heiligen Kuh für französische Politiker geworden ist −, gab es eine Figur, die als "der Sündenesser" bekannt war: ein armer Mann, der die Aufgabe hatte, die Häuser der Landbevölkerung zu besuchen und die kollektiven Sünden der Gemeinschaft auf sich zu nehmen, wofür er als Gegenleistung eine anständige Mahlzeit erhielt. Was wir jetzt brauchen, ist eine Art von patriotischem Sündenesser, der willig ist, die volle Bösartigkeit des Empire und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten − Sklaverei, Genozide, Hungersnöte, Ausbeutung materieller Ressourcen − zu verdauen in der Hoffnung, dass die Schwere der Schuld wenigstens gegen die nationale und nicht unbeträchtliche Summe von positiven und bleibenden Errungenschaften auf Seiten einzelner englischer Männer und Frauen aufgewogen werden könnte. Oder gar, im Hinblick auf den bewaffneten Widerstand gegen die Hegemonie Napoleons und Hitlers, auf Seiten Englands als Ganzem. In Verbindung mit dieser dringend benötigten Wiedergewinnung der Selbstachtung ist es für die Engländer wichtig zu verstehen, wie der Charakter und die Kontinuität ihrer historischen Erfahrung sie von anderen europäischen Nationen unterscheiden. Die Schüler und Studenten haben heutzutage wenig oder gar keine Ahnung von bedeutsamen Ereignissen in der gemeinsamen Geschichte der Nation vor 1900 oder von den kausalen Verbindungen zwischen ihnen. Chronologie, das schlichte Bewusstsein von Geschichte als Geschehen innerhalb eines Rahmens, der durch das Vorübergehen der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte gebildet wird, wird abgelehnt zugunsten einer Fokussierung auf isolierte Episoden, Bewegungen oder Individuen, ohne überwölbenden Sinn für die Epoche oder die kulturelle Atmosphäre, in der sie zu verorten wären. Es sollte nicht allzu schwierig sein, wenigstens die Grundlagen bestimmter Aspekte des Engländertums innerhalb einer erweiterten historischen Perspektive zu erklären und dabei die Art von Selbstmitleid und vorwurfsvoller Nostalgie à la Scruton zu vermeiden, deren Wirkung letztendlich toxisch ist. Ziemlich wahrscheinlich wird die Auflösung des Vereinigten Königreichs, wenn sie denn schließlich stattfindet, den Engländern eine robustere Anerkennung des Werts ihres hartnäckigen Individualismus und der Errungenschaften seines kreativen Ausdrucks aufnötigen, die sich über mehrere tausend Jahre hinweg von der Errichtung von Stonehenge bis zur Entdeckung des Penicillins in allem manifestiert haben. Der Patriotismus könnte schließlich ein Stück von der ihn begleitenden Demütigung loswerden, während der wilde Hang zur nationalen Selbstverunglimpfung gemäßigt würde von einem weitaus typischeren englischen Element der Selbstironie und durch die Rettung jenes alles durchdringenden Sauerteigs des Humors, gegen den nichts in England, wie sehr es sich auch in Feierlichkeit oder Bedeutungsschwere hüllen mag, gefeit ist. Alleingelassen, ohne von der künstlichen Schale "Großbritanniens" bedeckt zu werden, gelangen die Engländer in all ihrer gewohnheitsmäßigen Indirektheit und Schrägheit womöglich am Ende dahin, sich wieder wohlzufühlen in ihrer komplexen Identität als ein Volk, und dann verstehen sie im Lauf dieser Entwicklung vielleicht auch die Wahrheit von Palmerstons unverschämter Behauptung: "Wenn ich kein Engländer wäre, wünschte ich, ein Engländer zu sein."
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