MERKUR

Heft 09/10 / September 2011

Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind.

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Ute Frevert

Nonkonformität im Sozialismus . Der blinde Fleck des Jürgen Kuczynski

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Zitate:

Viele erinnern die DDR als eine graue Gesellschaft − so grau wie die Häuserfassaden in Ostberlin, Dresden oder Leipzig. Grau war hier nicht nur die Farbe der Theorie, sondern auch die Farbe des gelebten Lebens. Der realsozialistische Staat führte seine Bürger am Gängelband und gab ihnen vor, wie sie zu denken, zu fühlen und zu handeln hatten. Er verpasste ihnen die Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen, und er sorgte dafür, dass Übertretungen geahndet wurden. Erziehungsresistente Abweichler landeten in Bautzen oder westlich der Elbe. Selbstredend wies diese graue Gesellschaft farbige Einsprengsel und bunte Tupfer auf. Es gab Nischen des Alltags, in denen sich Lebensfreude, Eigensinn und Kreativität entfalten konnten. Sprichwörtlich geworden ist die Datsche, in der das kleine Glück blühte, nach Feierabend und ohne Parteiauftrag, jedoch mit dem Segen des Staates. Auch diese privaten Fluchten bildeten Konformität ab, anstatt sie zu unterlaufen. Was aber hieß Konformität − oder Nonkonformität − im realen Sozialismus? Gab es die Begriffe überhaupt? Ein Blick in DDR-Lexika zeigt: "Konformität" oder "Konformismus" fehlte als Lemma sowohl in Meyers neuem Lexikon (1974) als auch im Elementarlexikon (1985) des Leipziger Bibliographischen Instituts. Lediglich das 1976 erschienene Wörterbuch der Psychologie kannte die Begriffe, reservierte sie aber für die Verhältnisse in der "staatsmonopolistischen Gesellschaft". Damit waren die westlichen oder "imperialistischen" Länder gemeint; nur hier fand Konformismus statt, definiert als "Anpassung von Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen an die Ideen und Forderungen" der "herrschenden Klasse". Dementsprechend war auch "Nonkonformismus" ein ausschließliches Phänomen der "kapitalistischen Umwelt", wie man aus dem Meyer erfuhr. Als Selbstbezeichnung "bürgerlicher Intellektueller" markiere er eine "politisch-moralische und kulturell-literarische Haltung" in "kritischer Opposition" zum "reaktionären kapitalistischen staatsmonopolistischen Gesellschafts- und Regierungssystem". Im realen Sozialismus war Nonkonformismus nicht vorgesehen, denn hier bedurfte es keiner kritischen Opposition. Zwar gab es auch in der DDR ein paar Intellektuelle, die von einem richtigen Sozialismus im falschen träumten. Sobald sie ihre Träume jedoch an die große Glocke hängten, erhielten sie Besuch von der Stasi und Hausarrest; in Zeiten härterer Gangart blühten ihnen Gefängnisstrafen oder die Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Wie passt Jürgen Kuczynski in das Bild einer durch und durch auf Anpassung an die herrschende Partei (nicht Klasse) kodierten Gesellschaft? Sprengte dieser Parademarxist, Vorzeigewissenschaftler und Berufsdissident das graue Einerlei? Brach er eine Lanze für Differenz und Kritik? Hatte er den Freimut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und gegen die vorgegebene Linie anzudenken? Traute er sich zu widersprechen, wenn er sie für falsch hielt? Lebte er ein Leben, das bunt war und unabhängig und wahr?

MERKUR Jahrgang 65, Heft 748/749, Heft 09/10, September 2011
238 Seiten, broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Peter Bürger, Jörg Lau, Jürgen Kaube, Norbert Bolz, Gustav Seibt, Karl Heinz Bohrer, Henning Ritter, Ulrike Ackermann, Karin Westerwelle, Reinhard Steiner, Gerhard Neumann, Rainer Hank, Lothar Müller, Ute Frevert, Adam Krzemiński, Siegfried Kohlhammer, Hans Ulrich Gumbrecht, Jürgen Paul Schwindt, Christian Demand, Ingo Meyer, Joachim Fischer, Michael Rutschky, Harald Welzer, Sebastian Wessels, Heinz Bude, Kurt Scheel,


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