Aus dem Doppelheft September/Oktober 2011, Nr. 748/749
Sag die Wahrheit!
Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind
Nicht-Mitmachen. Dass der kritische Intellektuelle ein Außenseiter zu sein hat, einer, der nicht mitmacht, daran besteht für Theodor W. Adorno kein Zweifel. Denn Mitmachen gilt dem Autor der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs begonnenen Minima Moralia als "Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen". Als Adorno dies schreibt, ist der NS-Staat noch nicht besiegt. Im Wort Mitmachen klingt noch der Mitläufer nach; das rechtfertigt die moralische Verwerfung des Konformismus. Der Außenseiter, so ließe sich folgern, wäre also die moralisch gerechtfertigte Gestalt schlechthin. Gerade in dieser Auffassung sieht Adorno eine Gefahr: sich für besser zu halten als die anderen. "Während er danach tastet, die eigene Existenz zum hinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollte er dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wissen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt. Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwerkraft des Bürgerlichen in ihm selber." Die Reflexion ist in mehrfacher Hinsicht irritierend. Nicht nur wird die angedeutete Selbstkritik durch den Hinweis auf den eigenen Konformismus ("Schwerkraft des Bürgerlichen") relativiert, vor allem bleibt der ungeheure Anspruch, die eigene Existenz zum Bilde des richtigen Lebens zu machen, von der Kritik ausgenommen. Der Anspruch ist aber kein geringerer als der des Heiligen, der seine Abkehr von der Welt dieser vorhält. Im Nicht-Mitmachen würde also das alte Motiv der Askese aufscheinen. Wäre der Außenseiter ein moderner Heiliger, der das eigene Ich an die Stelle Gottes gesetzt hat?
Peter Bürger, Das Dilemma des Außenseiters
Es gibt ein Genre des populären Films, in dem der Außenseiter der Held ist: der Katastrophenfilm mit seinen Untergängen, Alieninvasionen und Sturmfluten. Immer ist es hier der Außenseiter, der die Welt rettet. Er ist es, der das Verhängnis kommen sieht, das die anderen nicht wahrhaben wollen. Diese anderen, die Etablierten, sind zu verstrickt in den Alltag, um die nötige Wachheit aufzubringen. Und so wird für sie der zum Retter, den sie in ihrer Borniertheit ausgeschlossen haben. Sie haben nicht an seine Mahnungen geglaubt, ja sie haben ihn eigentlich kaum mehr wahrgenommen; sie haben ihn abgetan, wenn er wieder einmal mit abseitigen Theorien des kommenden Unheils die Aufmerksamkeit auf sich zog. Nun aber ist er gerechtfertigt, und sie stehen blamiert da in ihrer Verfallenheit an den Status quo.
Jörg Lau, Die Republik der Außenseiter
An den Begriffen des Außenseiters und des Nonkonformisten fällt zunächst ihre Unbestimmtheit auf. Sie zeigt sich deutlich, sobald nach dem Gegenteil dieser Begriffe gefragt wird. Wer das Wort "Innenseiter" googelt, der erhält die Rückfrage "Meinten Sie ´Außenseiter´?" Innenseiter sind im Deutschen nicht vorgesehen. Das aus dem Englischen übernommene "Insider" wiederum, das dort nicht das Gegenteil des "Outcast" geschweige denn "Outlaw" meint, bezeichnet ebenfalls nicht den, der dazugehört, sondern den, der sich weit darüber hinaus besonders auskennt. Zwar sprechen die Wirtschaftswissenschaften beispielsweise von "Insider-Outsider"-Modellen, wenn sie die strategischen Positionen von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen analysieren. Doch wenn dieselbe Disziplin zur Frage des Insiderhandels an Börsen übergeht, ist damit nicht einfach nur der Handel irgendwelcher Angestellter mit Wertpapieren der eigenen Organisation gemeint, sondern der von solchen mit entscheidenden Informationsprivilegien.
Jürgen Kaube, Ein Denkmal für den unbekannten Innenseiter
Der moderne Konformismus des Denkens ist eine Konsequenz der Entmythologisierung, der Entzauberung der Welt − also eine Nebenwirkung der Aufklärung. Wir sagen, was man sagt, weil wir uns nicht mehr vom Gesetz, der Sitte und der Tradition getragen fühlen. Diese modernitätsspezifische Anomie führt also geradenwegs zu Konformismus: Die Emanzipation der Vernunft hat uns der öffentlichen Meinung versklavt. Modern entsteht Konformismus durch Informationskaskaden, also durch soziale Mimesis. Wenn man nicht weiß, was man tun soll, ist es durchaus lebensklug, sich an dem zu orientieren, was die anderen tun. Die Menschen verlassen sich dann nicht auf ihre privaten Meinungen und Informationen, sondern schließen sich anderen an. Das geschieht um so schneller, je enger die Gruppenbindungen sind. Diese Informationskaskaden nehmen leicht die Gestalt von sozialen Kaskaden an − wenn etwa Menschen Angst vor XY bekommen, weil andere Menschen Angst vor XY zeigen. Ein Anthropologe würde wohl sagen: Der Mensch ist ein Mitläufer. Politisch betrachtet wäre das Eingeständnis fällig, dass die moderne Demokratie den Konformismus begünstigt. Und technisch gesehen ist er ein Effekt der Massenmedien. Sehen wir näher zu. Je besser die Massenmedien die öffentliche Meinung organisieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die meisten Menschen in ihrem Urteil über die Meinung der meisten Menschen irren. Dieser Irrtum potenziert sich dann in der öffentlichen Meinung über die öffentliche Meinung. Wenn sich aber die Mehrheit über die Mehrheit täuscht, muss dem eine Angstdynamik zugrunde liegen, die so alt ist wie die Demokratie: die Angst, von der Mehrheit geächtet zu werden.
Norbert Bolz, Der Reaktionär und die Konformisten des Andersseins
Wer sich dem Außenseitertum nähert, sollte ehrlicherweise damit beginnen, dass es nicht wünschenswert ist, Außenseiter zu sein. Die spätmittelalterliche Frau, die als Hexe identifiziert wurde, der Homosexuelle im heutigen Iran oder auch das mit irgendeinem scheinbaren Makel behaftete Kind, das in der Gruppe seiner Gleichaltrigen zum "Opfer" wird, sie alle sind ja in der Regel keineswegs durch Begabungen oder gar Genie ausgezeichnet, die ihre furchtbaren Leiden aufwiegen könnten. Vielmehr sind es ganz normale, sogar durchschnittliche Menschen, die nichts mehr ersehnen, als in ihren heimischen sozialen Zusammenhängen Anerkennung und Zuneigung zu finden. Vielleicht treibt ihre Verzweiflung sie zu dem Punkt, sich selber anders zu wünschen, ohne Schwulsein oder Fettsein, aber zunächst würden sie wohl am liebsten so genommen werden, wie sie sind. Doch die umgebenden Gruppen wählen sie als singuläre Ziele selbststabilisierender Gewalt aus, hetzen und quälen sie entweder rasch zu Tode oder erhalten sie als dauernde Objekte der Grausamkeit am Leben; dieses Leben, am Rande, aber in Reichweite der Gesellschaft, als Spielobjekte von Meuten, wird zur Hölle. Dass solche Menschen dann auch anders zu denken beginnen als die Mehrheit, ist unvermeidlich. Aber das beweist noch gar nichts über die Qualitäten solcher Randständigkeit. Die Welt war seit jeher voll von bedauernswerten Spinnern, von Depressiven und Größenwahnsinnigen, von Leuten, die mit sich selbst sprechen, sich nicht im Griff haben und den schlichtesten Anforderungen an ein geordnetes Dasein nicht gewachsen sind. Nur wenn hohe Begabung und eine große Ichstärke dazukommen, mag das primäre Außenseitertum, wie es von jeder Gruppe, jeder Gesellschaft und jedem Moral- und Rechtssystem produziert wird, fruchtbar werden.
Gustav Seibt, Nicht mitmachen
Hamlet − der Außenseiter. Diese Identifikation ist buchstäblich wahr. Hamlet steht und sitzt immer am Rande der Gesellschaft, deren Prinz er ist. Er sitzt am Rande des Hofkreises. Und er geht außerhalb des Hofkreises. Wenn er nicht mit seinem Freund Horatio spricht, steht und geht Hamlet alleine, bevor ihn ein Mitglied des Hofes aufspürt. Schon diese physische Charakteristik weist auf die exzentrische Stellung Hamlets hin, bevor er sie ausspricht. Er ist der erste und berühmteste Außenseiter in unserer kulturellen Erinnerung. Gewiss gab es Außenseiter vor ihm, im richtigen Leben und in der Literatur. Aber erst Hamlets Theatralizität macht das Außenseitertum objektiv und historisch attraktiv, nicht zuletzt für die vielen Insider, die ihn seit vierhundert Jahren im Theater sahen und ihn zu einer Ikone ihres kulturellen Bewusstseins machten. Dass David Riesmans Unterscheidung zwischen Angepassten und Autonomen unter der Bedingung einer sogenannten außengeleiteten Gegenwart Ende der fünfziger Jahre für Intellektuelle so wichtig wurde − ähnlich wichtig wie der existentialistische Freiheitsbegriff oder negativ Arnold Gehlens zur gleichen Zeit veröffentlichter Essay Die Seele im technischen Zeitalter , eine Kritik des "auf sich selbst zurückgefallenen Innenlebens" −, das hat mit der Bedeutung dieser Präfiguration im europäischen, nicht zuletzt deutschen Geistesleben zu tun. Nonkonformisten sind meistens Außenseiter, aber nicht jeder Außenseiter ist ein Nonkonformist. Dieser Unterschied liegt im Umstand begründet, dass der Außenseiter erst nonkonformistisch wird, wenn er sein Außenseitertum, seine Abweichung von der konformen Meinung begründet. Und zwar nicht bloß als Ausdruck seines psychologisch-kognitiven Andersseins, sondern als ein Argument, das auf Dauer nicht bloß für seinen Sprecher gilt. Insofern impliziert das abweichende Angebot des Nonkonformisten immer auch eine mögliche zukünftige Konformität.
Karl Heinz Bohrer, Der Mut zur Wahrheit: Hamlet
Der Dissident lebt unter der Drohung, jederzeit aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden − in der Form der Ausbürgerung oder der Gefangenschaft. Der Dissident stellt die Gesellschaft seinerseits total in Frage, indem er in Koordinaten lebt, die sich mit denen der Gesellschaft nicht nur nicht decken, sondern nicht einmal berühren. Diese Verhältnisse entsprechen in ihren Grundzügen der Konstruktion der Gespräche. Rousseau richtet über Jean-Jacques . Auch im Dissidententum liegt ein Moment von Zwang und Paranoia. Der Dissident ist die letzte Figur einer unmöglichen, asozialen Existenz, der letzte Außenseiter in einer Reihe, die mit den scheinbar unschuldigen Formen eines Lebens am Rand der Gesellschaft beginnt und in einem tödlichen Zweikampf zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen endet.
Henning Ritter, Der andere Rousseau
Postskriptum: Die Postfeministin fragt sich nun, was bleibt von dieser Frau und ihren unkonventionellen Begehrlichkeiten, ihrer freimütigen Rede über die Wonnen und Abgründe der Liebe, ihrem Spiel mit den Geschlechterrollen? Alles erreicht, alles erledigt? Die Sache mit der Ehe als dem Hort weiblicher Knechtschaft hat sich bei uns zumindest auf rechtlicher Ebene erledigt. Aber haben sich die Imaginationen vom Männlichen und vom Weiblichen grundlegend verändert? Trotz Frauenbewegung, Frauenwahlrecht, Gleichstellung und Frauenquote? Trotz der Pluralität der Lebensstile und der Privatisierung der Sexualmoral? Hat sich die hartnäckige Aufspaltung der Frau in Madonna und Hure verflüchtigt? Ist Mütterlichkeit von Frauen gegenüber Männern womöglich ein Ausweichmanöver von beiden Seiten im Beziehungsspiel, weil Liebe auf Augenhöhe selten funktioniert und weibliches Begehren damit neutralisiert werden kann? Würde heute eine prominente Frau in der Öffentlichkeit geschätzt werden, die Mann und Kinder verlässt und in der Folge mit sechs weiteren Geliebten lebt, die allesamt jünger sind? Einer Frau, die obendrein noch lautstark an den Tabus der Geschlechterordnung rüttelt und öffentlich über Sexualität redet? Können wir uns denn vorstellen, nach vollbrachter Quote in den Führungsetagen, dass die Topmanagerinnen etwa die Idee einer Versicherung aufgreifen und die besten Mitarbeiterinnen mit einer Dienstreise ins eigens dafür angemietete Grandhotel belohnen, um ein Wochenende besonderer Art mit exklusiv engagierten Liebesdienern zu verbringen? Was wollen wir denn nun, Männermoral oder Frauenmoral, oder nichts davon oder beides oder ganz etwas Neues? Sicher scheint zumindest, dass das apollinische Prinzip immer noch heftig mit dem dionysischen zu ringen hat, auch hundertvierzig Jahre nach Nietzsches Tragödienschrift.
Ulrike Ackermann, Unkonventionelle Begehrlichkeiten
Mit Charles Baudelaire und Victor Hugo stehen sich zwei gänzlich differente Muster von Außenseitertum gegenüber. Bereits in seiner frühen Lyrik in den zwanziger Jahren stilisiert sich Hugo, von der Ambition "Être Chateaubriand ou rien" getrieben, als Prophet und Seher, der aus der Überschau von Zeit und Raum der Menge den Weg weist. Im Exil unter Napoleon III. auf die Insel Guernsey verbannt, ermuntert er Baudelaire, der von ihm einen Widmungsbrief für eine Gautier-Besprechung erbeten hatte: "Und was die Verfolgungen anbetrifft, so sind diese große Auszeichnungen − Mut!" Eine zeitgenössische Photographie zeigt Hugo einsam auf einem hohen Felsen sitzend, nur die Elemente Himmel und Meer umgeben ihn, mit denen der so Posierende − wie "ein heiliger Johannes der Poesie im Patmos von Guernsey", so Gautier über den Exilierten − kommuniziert. Der Tod Victor Hugos im Mai 1885 ist eine nationale Angelegenheit: Der Katafalk des Dichters wird unter dem Triumphbogen aufgebahrt, die Nation defiliert in Ehrerbietung an ihm vorüber. Die Stimme aus Verbannung und Exil hat sich in einer Apotheose zur nationalen Größe erhoben. Gegenüber den Pathosfiguren des Dichters als Prophet, aber auch gegenüber den deklassierten Formen des Bohemienkünstlers zeigt sich Baudelaire in Lyrik und ästhetischen Kritiken reserviert. Sentimentalische Darstellungsformen von sängerischer Erhöhung, wie etwa der einsame Dichter mit der Leier, finden sich in seinen Gedichten und Kritiken nicht.
Karin Westerwelle, "Verlust des Heiligenscheins"
Wer der Generation der um 1950 Geborenen angehört und 1968 noch ein wenig zu jung war, um zum echten politischen Rebellen zu werden, aber alt genug, um sich wenigstens äußerlich mit den Insignien des Nonkonformismus erkennbar auszuzeichnen, bediente sich des Kostüm- und Maskenfundus der Hippies; er trug nicht nur Klamotten, deren malerische Patchworkbuntheit jedermanns Auge blendeten, er trug lange, sehr lange Haare, die mit dem im Grunde ja furchtbar ordentlichen Pilzkopf der Beatles gar nichts gemein hatten. Und wer dann auch noch von seinem Vater oder sonst einem ehrbaren Bürger die hart erkämpften Beschimpfungen − langhaariger Affe, Zigeuner, geh doch zuerst zum Friseur − hören durfte, der hatte eine Erfahrung gemacht, die ihn adelte. Er konnte glauben, es geschafft zu haben, endlich nicht mehr der Gesellschaft anzugehören, der er mit seinem Outfit Hohn sprach. Lange Haare, Haartrachten generell, galten schon seit je als symbolisch hochcodierte Ausdrucksmedienmenschlicher Erscheinung, ihr Verlust nicht nur als Folge von Alter und Krankheit, sondern etwa in der mönchischen Tonsur als Verzicht auf weltliches Gepränge und Eitelkeit. Lange Haare trugen Naturapostel genauso wie vornehme höfische Perückenträger, Softies so sehr wie wilde Männer, deren Triebhaftigkeit oder Kampfesmut in der ungebändigten Fülle ihres Haupthaars sichtbar wurde. In ihrer so körperlich individuellen wie unfest fliegenden Zierform sind sie unter allem Beiwerk, wie es Aby Warburg charakterisierte, ein besonders expressives. Und das trifft in einer unerwarteten Weise auch für den Bravo zu, eine Figur, in der sich historisch wie in der literarischen Fiktion einige signifikante Motive des Außenseitertums zu einem nahezu kritischen Typus verdichten. Allerdings nicht in der bloß modischen oder zur Mode verkommenen Form eines "Konformismus des Andersseins", nicht als Markenzeichen, sondern sogar realiter als gewissermaßen funktionale Berufskleidung. Eine einschlägige Quelle dafür findet sich in Alessandro Manzonis Roman I promessi sposi , in neuer Übersetzung Die Brautleute betitelt.
Reinhard Steiner, Der Bravo
Es ist also eine Poetologie des Außenseitertums, die hier, in Kafkas Werk und seinen Experimentanordnungen, entworfen wird: einerseits in ihren Auswirkungen auf die endende Geschichte des Individuums, seiner Gefährdung durch das Fremde, das als Eigenes inkorporiert wird; andererseits in ihrer Funktion in der beginnenden Geschichte der Massen. So wie Kafkas Vater seinen Sohn aus der Normalität in die Rolle des Außenseiters drängt, so kehrt sich das Verhältnis Kafkas zu der ihm folgenden Generation abermals um: Das Prinzip Kafka tritt aus seiner Außenseiterposition heraus und erlangt universelle kulturelle Geltung als Beschreibungsmuster der Masse der Einzelnen in der Kultur. Dies geschieht in einer Welt der zunehmenden Traumatisierung der Geschichtserfahrung, der abgebrochenen Überlieferungen, der Ersetzung des Einzelnen durch die Masse, einer Welt der Angst und des flottierenden Schuldbewusstseins. Es scheint, als zeige sich in dieser Welt, in der wir leben, in Gestalt der Masse, die sie als fremde und entfremdende beherrscht, das Individuum alternierend bald als Außenseiter, bald als Integrant. Es ist eine Welt verschiedener sozialer Plattformen wie beispielsweise der Internetforen, wo punktuelle Integration mit krassem Ausgeschlossensein wechselt. Es ist eine Welt der Unübersichtlichkeit, in der Schübe von "displacements" von solchen der Insidererfahrung gekreuzt werden. Es ist eine Migrantengesellschaft, in der beide Rollen von Außenseitertum und Integration nebeneinander gelebt werden − die Einzelnen einander wechselweise befremdlich bis zur Unkenntlichkeit. Es zeigt sich eine vielschichtige Existenzformel, die noch ihrer Entschlüsselung harrt. Dieser Welt hat man das aus Kafkas Namen gebildete Adjektiv zugesprochen, eine seltene Auszeichnung, wie sie kaum einem Autor zuteil wurde: "kafkaesk". Es ist das Signet der Moderne geworden, wie wir sie verstehen; durch einen Außenseiter wahrgenommen, der sich stets weigerte, ein solcher zu sein.
Arnheims (und Rathenaus) synthetisierende Ausnahmeexistenz sucht, wiewohl öffentlich alles längst unerzählerisch geworden ist, die allgemeine Zerrissenheit der Zeit aufzuheben und in seiner Person zu einer gelebten Einheit zu bringen: Seele und Wirtschaft, Besitz und Bildung, Geld und Gedicht, Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger verlangen noch einmal nach Harmonie. Wenn freilich die These vom Ende des primitiv Epischen stimmt, dann muss logischerweise auch Arnheim die Vergeblichkeit seines synthetisierenden Bemühens narrativ vor Augen geführt werden. Arnheim selbst spricht am Ende aus, dass das "Zeitalter der großen Individualitäten" zu Ende sei, mag er sich auch noch so sehr vormachen, dass er selbst die Ausnahme von dieser Regel sei. Weil aber objektive Zerrissenheit der Moderne und subjektive Ganzheit ("Seele") als Widerspruch nicht auflösbar sind, ist Arnheims Existenz nur noch ironisch zu greifen. Wenn Wirtschaftsleute ("Manager") heute sich zu Bildung, Wissenschaft, Kunst oder Moral äußern, dann klingt es längst nicht mehr ironisch, sondern meistens peinlich. Bei Musil lässt sich nachlesen, warum das so kommen musste. Arnheim ist der Außenseiter, eine ironische Existenz, der sich durchaus nicht ohne Größe ein letztes Mal gegen das objektiv Unabwendbare und Unerzählbare stemmt, wo doch längst Kunst und Ökonomie, Lyrik und Handel, Moral und Geschäft sich voneinander getrennt haben.
Rainer Hank, Mann vieler Eigenschaften
Der Konformist ist im 20. Jahrhundert zu einer historisch signifikanten Figur geworden. Seinen modernen Begriff und mit ihm seine negative Aura hat er erst als Phänotyp der Epoche des Totalitarismus gefunden. Noch im späten 19. Jahrhundert definieren die Lexika die Konformität eher technisch-neutral als "Übereinstimmung". Als Figur und Typus im Singular kennen sie den Konformisten nicht. Wenn sie von Konformisten sprechen, meinen sie die englischen Protestanten, die nach 1662 der Staatskirche beitreten, während sie unter den Non-Konformisten alle diejenigen verstehen, die den "Act of Uniformity" nicht anerkannten. Beide Gruppen, ob die Anglikaner oder die Presbyterianer, Kongregationalisten, Quäker und sonstigen "Dissenter", stehen auch dort, wo sie Individuen in sich aufnehmen, die ihre Option aus taktischem Kalkül heraus treffen, für markante, mit Nachdruck vertretene Glaubensinhalte. Von dieser Bindung an Gehalte löst sich der Konformist des 20. Jahrhunderts. Er wird nicht durch seine Bewusstseinsinhalte definiert, sondern durch die seinen Meinungen zugrundeliegende "Charakterstruktur", durch seine Beziehung auf Macht und Autorität. "Autoritätsgebundene Charaktere identifizieren sich mit realer Macht schlechthin, vor jedem besonderen Inhalt", definiert Theodor W. Adorno in dem Radiogespräch Erziehung zur Mündigkeit . Sein Begriff ist diagnostisch angelegt, als Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit totalitärer Herrschaft.
Lothar Müller, Der Konformist
Viele erinnern die DDR als eine graue Gesellschaft − so grau wie die Häuserfassaden in Ostberlin, Dresden oder Leipzig. Grau war hier nicht nur die Farbe der Theorie, sondern auch die Farbe des gelebten Lebens. Der realsozialistische Staat führte seine Bürger am Gängelband und gab ihnen vor, wie sie zu denken, zu fühlen und zu handeln hatten. Er verpasste ihnen die Zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen, und er sorgte dafür, dass Übertretungen geahndet wurden. Erziehungsresistente Abweichler landeten in Bautzen oder westlich der Elbe. Selbstredend wies diese graue Gesellschaft farbige Einsprengsel und bunte Tupfer auf. Es gab Nischen des Alltags, in denen sich Lebensfreude, Eigensinn und Kreativität entfalten konnten. Sprichwörtlich geworden ist die Datsche, in der das kleine Glück blühte, nach Feierabend und ohne Parteiauftrag, jedoch mit dem Segen des Staates. Auch diese privaten Fluchten bildeten Konformität ab, anstatt sie zu unterlaufen. Was aber hieß Konformität − oder Nonkonformität − im realen Sozialismus? Gab es die Begriffe überhaupt? Ein Blick in DDR-Lexika zeigt: "Konformität" oder "Konformismus" fehlte als Lemma sowohl in Meyers neuem Lexikon (1974) als auch im Elementarlexikon (1985) des Leipziger Bibliographischen Instituts. Lediglich das 1976 erschienene Wörterbuch der Psychologie kannte die Begriffe, reservierte sie aber für die Verhältnisse in der "staatsmonopolistischen Gesellschaft". Damit waren die westlichen oder "imperialistischen" Länder gemeint; nur hier fand Konformismus statt, definiert als "Anpassung von Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen an die Ideen und Forderungen" der "herrschenden Klasse". Dementsprechend war auch "Nonkonformismus" ein ausschließliches Phänomen der "kapitalistischen Umwelt", wie man aus dem Meyer erfuhr. Als Selbstbezeichnung "bürgerlicher Intellektueller" markiere er eine "politisch-moralische und kulturell-literarische Haltung" in "kritischer Opposition" zum "reaktionären kapitalistischen staatsmonopolistischen Gesellschafts- und Regierungssystem". Im realen Sozialismus war Nonkonformismus nicht vorgesehen, denn hier bedurfte es keiner kritischen Opposition. Zwar gab es auch in der DDR ein paar Intellektuelle, die von einem richtigen Sozialismus im falschen träumten. Sobald sie ihre Träume jedoch an die große Glocke hängten, erhielten sie Besuch von der Stasi und Hausarrest; in Zeiten härterer Gangart blühten ihnen Gefängnisstrafen oder die Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Wie passt Jürgen Kuczynski in das Bild einer durch und durch auf Anpassung an die herrschende Partei (nicht Klasse) kodierten Gesellschaft? Sprengte dieser Parademarxist, Vorzeigewissenschaftler und Berufsdissident das graue Einerlei? Brach er eine Lanze für Differenz und Kritik? Hatte er den Freimut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und gegen die vorgegebene Linie anzudenken? Traute er sich zu widersprechen, wenn er sie für falsch hielt? Lebte er ein Leben, das bunt war und unabhängig und wahr?
Ute Frevert, Nonkonformität im Sozialismus
Viele reklamieren für sich, auch sie hätten Vorarbeit zur Demontage des Kommunismus in Osteuropa geleistet: die Falken in Washington, die den Kreml und seine Satelliten unter Druck setzten, und die Entspannungspolitiker, die mit der Anerkennung der Nachkriegsgrenzen den Regierenden in Moskau, Warschau, Ostberlin das Gefühl gaben, ihr Herrschaftsbereich sei 1975 in Helsinki gefestigt worden, um den Preis einiger Lippenbekenntnisse über die Freizügigkeit der Menschen und Ideen in Europa. Auch die "Helden des Rückzugs", wie Hans Magnus Enzensberger nachträglich jene kommunistischen Machthaber nannte, die 1989 einvernehmlich die Bühne räumten, können auf einen langen Übergangsprozess von totalitären Grundstrukturen des Stalinschen Imperiums zur autoritären und prädemokratischen Praxis der "Perestrojka" und ihren Beitrag dazu hinweisen: von Chruschtschows Geheimrede 1956 über Dubčeks Illusion von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" bis hin zur Aufhebung der Breschnewdoktrin durch Gorbatschow 1989. Und dennoch war es vornehmlich der langwierige Druck von unten, der den Zerfall des Kommunismus erzwang. Die Arbeiteraufstände in der DDR 1953 und in Posen 1956, der Aufstand in Ungarn 1956, der im Dezember 1970 blutig niedergeschlagene Streik an der polnischen Ostseeküste, dann der faktische Generalstreik im August 1980, der zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft, der Solidarność, führte, die dann die Repressalien des Kriegsrechts überstand und im Sommer 1989 den ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten im Ostblock stellte.
Die Exzentriker sind nicht die Schöpfer, Urheber oder Bewahrer der Freiheit, sie sind Symptome dafür. Zeichen einer liberalen Gesellschaft, die bereit ist, alle Formen nonkonformen Denkens, Verhaltens, Schaffens zu tolerieren, zuweilen auch zu fördern und sogar zu belohnen, solange diese die von den Gesetzen gegebenen Grenzen nicht überschreiten. In einer solchen Gesellschaft werden auch Wissenschaften, Erfindungen und Künste, kurzum Innovationen jeglicher Art sich ebenso entwickeln können wie die Individuen selber, mit oder ohne Exzentriker. Und in einer solchen Gesellschaft werden die Exzentriker nicht aussterben, sie werden allenfalls weniger auffallen.
Siegfried Kohlhammer, Exzentriker sind ein gutes Zeichen
"Paradigmawechsel" in den Wissenschaften, betonen wir Universitätsleute nun schon seit gut vier Jahrzehnten in explizitem oder implizitem Bezug auf Thomas S. Kuhn, den Erfinder dieses Begriffs, sind Momente und Prozesse der Innovation, die nicht bloß institutionalisierte "normale Wissenschaft" (wie Kuhn sie nennt) durchbrechen, sondern aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive selbst als Beginn einer neuen Form "normaler Wissenschaft" identifiziert werden können. Schon allein die erste Eigenschaft der Paradigmawechsel, das Durchbrechen von etablierten Konventionen wissenschaftlicher Praxis, weist sie im wörtlichen Sinn und ohne irgendwelche Unschärfe als "nonkonformistisch" aus. Anders gesagt: Wer den Begriff des Paradigmawechsels verwendet, schließt den des Nonkonformismus immer schon ein. Die beiden Begriffe verbindet ein Verhältnis der Tautologie.
Hans Ulrich Gumbrecht,
Paradigmawechsel und Nonkonformismus – mehr ale eine Tautologie?
Die deutsche Universität ist womöglich das Letzte, was uns einfällt, wenn wir an Nonkonformismus denken. Auch seit längst absehbar ist, dass die Hochschule nicht mehr der privilegierte Ort des Geistes ist, betreibt sie mit renegatischem Eifer ihre Selbstabschaffung. Sie ist die unheimliche Maschine, die den von ihrem politischen Außen verordneten oder doch erwarteten Terror der Selbstsäuberung in heftigen Schüben immer neu entfacht. Es scheint absurd, in der schönen Regelwelt des Konformismus dessen Gegenteil aufzusuchen. Und doch lohnt ein Blick auf unsere akademischen Bildungsanstalten, wenn man die Katastrophe der Parrhesie, der freimütigen Rede, in der Mitte unserer Gesellschaft an einem besonders eindringlichen Beispiel studieren will.
Jürgen Paul Schwindt, Nonkonformismus und Universität
Dass Kunstakademien noch heute einen höheren Status und größere Autonomie genießen als Kunstgewerbeschulen oder auch Fachhochschulen für Gestaltung, hat seine historischen Wurzeln in diesem dreieinhalb Jahrhunderte alten, offenbar unverändert attraktiven institutionellen Leitbild, das sie als einen privilegierten Ort begreift, an dem Professoren wie Studenten sich ohne Rücksicht auf ökonomische und berufsständisch praktische Zwänge der Kunst allein "nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung" hin widmen können. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass mittlerweile eine vollständige Umkehrung des stützenden Motivationsgefüges stattgefunden hat. Während in der Gründungsphase die Emanzipation von den als geistlos und beliebig abgelehnten handwerklich zünftischen Konventionen von der Überzeugung getragen war, dass diese das eigentliche Wesen der Kunst verfehlten und deshalb durch wahrhaft verbindliche Normen abgelöst werden müssten, wird heute jeglicher normative Konformitätsdruck, aus welcher Richtung und unter welchen Vorzeichen er auch kommen möge, als willkürliche Einschränkung des akademischen Freiheitsprivilegs und damit als sicheres Zeichen geistloser Verschulung empfunden.
Christian Demand, Die Kunstakademie
Schon von Talcott Parsons konnte man lernen, dass man Prozesse nach Tempo, Abstraktionsniveau und Intensität unterscheiden müsse; Niklas Luhmann, sein intelligentester Schüler, legte dann besonderen Wert auf Restabilisierung, also auf das Problem, wie es trotz Wandel denn überhaupt weitergehen kann, und berührte damit identitätslogische Untiefen der Frage nach dem, was ist. Ich habe nicht mehr anzubieten denn den Hinweis auf Alexander Demandts knappe Ausführungen zur Trichterstruktur historischer Prozesse: "Diffuse Kräfte tendieren zunehmend in dieselbe Richtung, eine Experimentierphase gewinnt an Intensität und führt scheinbar plötzlich zur Entscheidung. Die wachsende Geschwindigkeit verringert die Spielräume und mündet in eine Art Zwangsläufigkeit", die im Rückblick dann notwendig erscheint, es aber nicht war. Vorteil dieses Konzepts kaskadierender Prozesse ist nicht nur der Hinweis darauf, dass zwar die "Krise" als gestörte "Homogenität der Ereignisdichte" − langer Anlauf, kurzer Sprung − erfahren wird, die breitgefächerten Voraussetzungen und unerwarteten Wirkungen aber unbewusst bleiben. So finden sich ehemalige Rebellen als Lehrer an den Kunstakademien, Comicfiguren und Lifestyleartikel zitiert in Werken der Hochkultur, während sich gefeierte Avantgardisten bald als Eklektiker entpuppen. Ästhetische Innovation ist unbeherrschbar, zumal, daran lässt Demandt keinen Zweifel, das Neue kausal eigentlich nicht ableitbar ist; es kann sehnlichst erwartet werden und doch ausbleiben oder einfach untergehen, dagegen bleibt die Interpretation des Wandels buchstäblich Rekonstruktion, Modellbildung dessen, wie es nicht "eigentlich gewesen". Die prognostische Kompetenz jedoch, deren Schwierigkeit den Wirklichkeitswissenschaften zu Recht Kopfschmerzen bereitet, die ästhetischen Disziplinen dürfen getrost auf sie verzichten. Es wäre plötzlich schrecklich langweilig.
Ingo Meyer, Ästhetische Innovation in der bildenden Kunst?
Nonkonformismus − das ist in erster Linie eine Frage der Form, und zwar im Sinne von: Wie bleibt wer in Form, so dass er geschichtlich unter wechselnden Umständen durchhält, die Gegner in Schach hält? Während Michel Foucault als Philosoph, der er immer geblieben ist, beim Nonkonformismus doch nach der Wahrheit fragt, dem geschichtlichen Anders-sein-Können, beobachtet der nichtfoucaultsche Soziologe: cui bono, wem hilft der Nonkonformismus? Wer hält sich durch Nonkonformismus in Form? Wer wandelt das Unwahrscheinliche einer Herrschaft in eine neue geschichtliche Wahrscheinlichkeit um?
Joachim Fischer, Wie sich das Bürgertum in Form hält
Als alles anfing, als in der Nachkriegszeit Stars wie James Dean, Elvis Presley, Marilyn Monroe den Jungmenschen als "role model" nahekamen und als metonymische Modezeichen verfügbar wurden, verwiesen Kulturkritiker darauf, dass solche Imitationen doch den vorgeblichen Nonkonformismus und Individualismus konterkarieren: Wer unverwechselbar als er/sie selber wahrgenommen werden will, darf sich nicht mit MarilynsWackelpo, James Deans Schmollgesicht, Elvis Presleys Haartolle präsentieren. Georg Simmel demonstriert in seiner berühmten Studie Die Mode (1905), wie die Mode als Sozialisationsmechanismus funktioniert. Vor allem dadurch, dass sie dem Individuum gleichzeitig Nachahmung, also Gleichheit mit den anderen Adepten, und Unterscheidung von anderen Gruppen mit anderen Modezeichen ermöglicht. Was die Jugendmode und ihre Ausdifferenzierungen angeht, so herrschte in den achtziger Jahren eine richtige intellektuelle Mode bei deren Erforschung. Dass sie unterdessen abgeflaut ist, sagt nichts über die Vitalität der Sache selbst, die sich thematisch ja keineswegs auf das Outfit beschränkt; das ganze Feld des Konsumismus tut sich hier auf. Jean-Claude Kaufmann zeigt in seiner Studie über das Kochen, wie sich Einzelpersonen, aber ebenso ganze Familien durch ihre Koch- und Essgewohnheiten erfinden. Bei McDonald´s Just Stevinho oder Chicken McNuggets zu verzehren statt daheim Mutters Tofu-Zubereitungen oder Pasta mit Lauch kann in einem gewissen Lebensalter Nonkonformismus anzeigen. Die Standardisierung des Produkts sagt nichts über die nonkonforme Verwendung − schließlich sind Bücher, deren Lektüre der Kulturbürger weiterhin als Königsweg der Individuation anerkennt, gleichfalls standardisierte Produkte.
Michael Rutschky, Die Erfindung des Ich
Konformität hat einen schlechten Ruf, Autonomie einen sehr guten: Niemand wird sich gern sagen lassen, dass er ein Mitläufer ist, und in hochindividualisierten Gesellschaften gelten Eigenständigkeit, Durchsetzungs- und Urteilsfähigkeit ebenso wie die daraus abgeleiteten Entscheidungen und Handlungen als hohes Gut. Staatstheoretisch betrachtet gründen denn auch alle Demokratien ihre Verfassungen und Verfahren auf die Voraussetzung, dass Menschen, mindestens ab dem Erwachsenenalter, zu selbständigen Urteilen und Entscheidungen fähig sind. Autonomie ist vor diesem Hintergrund zunächst ein normatives Konzept. Entsprechend folgt auch das Rechtswesen grundsätzlich der Annahme, dass psychisch gesunde Erwachsene zu autonomem Handeln in der Lage sind, also dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden können. Konformität, nach lexikalischer Definition eine "Verhaltensänderung infolge realen oder eingebildeten Einflusses anderer Personen", ist in den westlichen Gesellschaften dagegen negativ beleumundet − was nicht verwundert, da sie je nach Lesart in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht in direktem Widerspruch zum Autonomieideal steht. Aber das Autonomieideal, so konstitutiv es für das moderne Staatsverständnis und für die Selbstbilder moderner Individuen ist, findet in den zuständigen Wissenschaften kaum empirische Bestätigung: Die Sozialpsychologie etwa kann − von den Konformitätsexperimenten aus den dreißiger Jahren bis zu den neueren Forschungen der Verhaltensökonomik − immer wieder feststellen, dass auch moderne Menschen im Zweifel die Mehrheitsauffassungen der eigenen, autonomen, vorziehen.
Harald Welzer / Sebastian Sessels
Wie gut, dass auch die Nonkonformisten konform sind
Offene Gesellschaften rechnen mit Nonkonformisten. Das sind die Kräfte, die den sozialen Wandel vorantreiben, die den gesellschaftlichen Zusammenhang in Bewegung halten und die die herrschende Meinung in Frage stellen. Karl Mannheim hätte seinerzeit gesagt, es sind die Protagonisten der Unruhe, die die "Konkurrenz auf dem Gebiete des Geistigen" beleben. Die altmodisch gewordene Kategorie des "Geistigen" trifft ganz gut, um was es geht. Es geht um kognitive Irritationen wie um normative Rebellionen. Nonkonformisten reagieren mit Unglauben auf das, was alle zu glauben scheinen, und sie machen sich über Handlungsmaximen lustig, die nach allgemeiner Auffassung die soziale Ordnung begründen. Sie akzeptieren die stillen Annahmen der seriös daherkommenden Urteile nicht, und sie drehen sich auf dem gesellschaftlichen Parkett einfach anders herum. Im nonkonformistischen Verhalten lassen sich kognitive von normativen Aspekten deshalb nicht trennen, weil es sich um eine existentielle Geste handelt, die gegen die Normalitätszumutungen eines für falsch gehaltenen Lebens aufbegehrt. Daraus wiederum wird verständlich, warum Nonkonformisten immer prononcierte Einzelne sind, die nicht auszuhalten vermögen, was allen anderen so selbstverständlich erscheint. Man muss sich Nonkonformisten als emotionale Wesen vorstellen, die sich über die sture Folgsamkeit der anderen amüsiert geben oder die so lange mitgegangen sind, bis der Punkt einer schroffen Abkehr erreicht war. Nonkonformistisch ist Andy Warhols Parole "Why not?" genauso wie Luthers Diktum "Hier stehe ich! Ich kann nicht anders".
Heinz Bude, Die gesellschaftliche Rolle des Nonkonformismus
Als Faustregel kann man sich merken: Wer im großen oder kleinen Kreis etwas sagen will, was ihn als moralisch hochstehenden Menschen gut aussehen lässt, ist mit Vorsicht zu genießen. Ist er wirklich am Thema interessiert oder nicht doch eher ein Fatzke? Dass er kein Nonkonformist ist, lässt sich schon daran erkennen, dass er nicht fürchten muss, einen Preis zu zahlen: Er macht nur Reklame für sich selbst. Wer im kleinen oder großen Kreis etwas sagen will, was vermutlich Ärger machen wird, sollte es sich vorher noch einmal überlegen: Steht es dafür? Wenn es ihm dann wirklich wichtig ist ("ein Anliegen"), muss er eben seine Wahrheit sagen und im Guten wie im Bösen die Folgen auf sich nehmen. Und dann kann es ihm nicht einmal mehr etwas ausmachen, wenn er berechtigt Prügel bekommt, weil er (nicht zum ersten Mal, fürchte ich) Unsinn gesagt hat: Er ist und bleibt auch als ehrlicher, aufrechter, mutiger Tor ein existentieller Nonkonformist, an dem alle Menschen guten Willens (und guten Widerspruchs) ihr Wohlgefallen haben.
Kurt Scheel, Auslaufmodell Nonkonformismus?
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