MERKUR

Heft 09/10 / September 2009

Heldengedenken. Über das heroische Phantasma

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Wir leben, noch immer, in der Moderne, der Epoche der Heldenkritik. In der von Hegel konstatierten "Prosa der bürgerlichen Verhältnisse" wird nicht der große und gewaltige Kämpfer des "heroischen Weltzustands" der homerischen Antike gesucht, der wie der Westernheld dem Rechte Geltung verschafft, sondern man braucht fähige, gut ausgebildete Justiz- und Polizeibeamte. Heldenkult jeder ideologischer Prägung ist passé, kommt nur noch als Modeeffekt - das Che-T-Shirt - oder voraufklärerischer Fanatismus vor. Es ist Opferbereitschaft für eine größere Sache, was den Helden auszeichnet, und eben solche "Sachen" sind von einem Nebeldunst des Zweifelhaften und der Manipulation umgeben. Tod fürs Vaterland, Nibelungentreue, aber auch der Soldat im Straßenkampf von Bagdad: Die "Sache", für die da gekämpft wird, ist allemal fragwürdig, umstritten. Wo aber an keine "Sache" so pathetisch geglaubt wird, dass heldenhaft für sie einzustehen wäre, bedauert man Soldaten eher, die verwundet oder getötet werden, als dass man in ihnen Helden bewundert. Und der Pilot der technologischen Kriegführung, der aus mehreren Kilometern Höhe Bomben dahin wirft, wo vielleicht Gegner sind, erscheint erst recht nicht als Held.

Hans-Thies Lehmann, Wunsch nach Bewunderung


Während es in England von Helden wimmelt, weist Deutschland in die entgegengesetzte Richtung. Die großen Gestalten der deutschen Geschichte von den Hohenstaufen zu den Hohenzollern sind in der untersten Schublade weggeschlossen worden. Wir hörten in letzter Zeit von einem Wiedererwachen des Nationalstolzes in der Bundesrepublik, und Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen der Ansicht ist, dass ihre Regierungen in den vergangenen sechzig Jahren viel erreicht haben. Die Fahne der Bundesrepublik wird nun auch bei Fußballspielen geschwenkt. Die patriotische Formel "My country, right or wrong" ist verständlicherweise für alle anständigen Deutschen Anathema. Die moralische Katastrophe des Zweiten Weltkriegs war der Grund dafür, den Begriff des Heldentums aus dem Vokabular der deutschen Sprache zu streichen. Indem die Historiker ihrer Arbeit nachgehen und die Geschichte des Dritten Reiches detailliert untersuchen, entdecken sie immer mehr Teile der damaligen deutschen Gesellschaft, die in diese Volksgemeinschaft mit Ausschließlichkeitsanspruch oder den Genozid verstrickt waren. Insbesondere die Wehrmacht ist nun in die Kritik geraten, und es wird zunehmend schwieriger, die Schuld für die Vernichtung der Juden, Zigeuner und anderer Nichtkombattanten einzig Himmlers Einsatzgruppen zuzuschieben. Angesichts dessen liegt es nahe, dass es keine Verehrung des edlen Helden mehr geben kann, keinen Stolz auf die Heldentaten der deutschen Vorfahren und keine Achtung vor den Toten, die scharenweise zu den Fahnen eilten, um einen unmoralischen Krieg zu führen: Geschichte beginnt in Auschwitz.

Giles MacDonogh, Helden und Patrioten


Wenn der Verteidigungsminister in einer Zeit, in der die Einführung neuer Ehrenzeichen und die Errichtung eines Kriegerdenkmals für die Bundeswehr diskutiert werden, nunmehr von Gefallenen spricht statt von Opfern, könnte dies ein Indiz dafür sein, in ihnen, die ihr Leben "für unser Land" gelassen haben, Helden sehen zu wollen. Eine Voraussetzung eines neuen Heroismus läge allerdings darin, überhaupt anzuerkennen, dass die Bundeswehr sich im Krieg befindet, denn Helden "fallen" im Kampf gegen den Feind. Von Krieg zu sprechen scheut man sich aber im offiziellen Berlin. Wenn die Bundeswehr Helden möchte, dann muss sie Kriege führen. Ein "Stabilisierungseinsatz" wie in Afghanistan ist aber kein Krieg, stellt Jung am 3. September 2008 in Berlin klar, sondern eine Art Polizeieinsatz zur Herstellung von "Ruhe, Sicherheit und Ordnung", wie es in der entsprechenden Resolution 1510 des UN-Sicherheitsrates heißt. Die deutschen Soldaten als Teil einer internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe, der International Security Assistance Force, führen beileibe keinen Krieg, dazu fehlte das völkerrechtliche Mandat. Und weil die ISAF per definitionem keinen Krieg führt, lassen sich ihre Angehörigen versichern. In der Versicherbarkeit findet sich ein handfestes Indiz für einen Nichtkriegseinsatz. Die DBV Winterthur beispielsweise hat seit dem Jahre 2004 Policen für Versicherte ausgezahlt, die dem ISAF-Kontingent zugeordnet waren, während dies Angehörigen der Operation Enduring Freedom verweigert worden ist. Die sogenannte Kriegsklausel des Versicherungsrechts gelte eben für Kriege, daher komme sie bei Einsätzen "humanitärer" Art, wie die ISAF es sei, nicht zur Anwendung. Die ISAF-Mission mag riskant sein, doch ist sie versicherbar. Dies stellt die Soldaten gleich mit anderen Berufsgruppen, die Risiken eingehen und entsprechende Versicherungen abschließen, etwa mit Feuerwehrleuten, Lehrern oder Schreinern. Der Versicherbarkeit von Soldaten entsprechen die unterstellten "unkriegerischen" Risiken ihres Einsatzes, in dem man folglich Opfer werden kann, aber nicht zum Helden. Es bleibt abzuwarten, ob die Versicherungswirtschaft aufhört, Policen auszuzahlen, wenn in den Verlautbarungen des Verteidigungsministeriums die Gefallenen der ISAF-Mission zu Helden werden, denn für diese Fälle gälte dann ja wohl die Kriegsklausel.

Niels Werber, Soldaten und Söldner


Helden - hier zwischen inflationärer Alltagspräsenz und dort als fiktionale Existenz in weit entrückten, antiken Welten. Diese beiden Positionen markieren das Spannungsfeld, in dem über 6600 Kinder und Jugendliche beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2008/2009 ihren Zugang zum Thema "Helden" suchten. Eine Ausgangslage, die es ihnen nicht leicht machte, geeignete Protagonisten für ihre lokalgeschichtlichen Forschungen zu finden. War das Thema von den Organisatoren des Wettbewerbs falsch gewählt worden? Eine Aufforderung zur Spurensuche auf unklarer Arbeitsgrundlage? Im Vorfeld der Ausschreibung hatte es in der Tat Debatten um die Themenstellung gegeben. Warum Schülerinnen und Schüler - teilnahmeberechtigt waren nach dem 1. September 1987 Geborene - auf die Suche nach Helden schicken, wo doch offenkundig nur Vorbilder gemeint sein konnten? Lehrer, Historiker, Archivare und andere bildungspolitische Akteure aus dem Umfeld des Wettbewerbs hatten Einwände gegen die Kategorie des Helden geltend gemacht: Hier werde ein Begriff gewählt, der nach den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu Recht in Misskredit gekommen sei, der Lobgesang auf falsche Helden hätte es im Gegenteil verdient, im Schutt zweier Weltkriege endgültig unterzugehen. Mit Helden würde ein elitäres Konzept propagiert, das nicht dazu tauge, Jugendliche in demokratischer Absicht für vorbildliche Handlungsweisen in einem Gemeinwesen zu sensibilisieren, in dem Werte wie Gleichheit und Solidarität gelten sollen. Hinzu kam die Befürchtung, Kinder und Jugendliche würden sich historische Figuren suchen, um sie affirmativ und apologetisch als "ihre Helden" zu verklären - der mit dem Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten verknüpfte Anspruch eines kritischen Ansatzes hätte es bei diesem Thema besonders schwer. Ganz abgesehen von der Geschlechterproblematik, die mit der Verwendung und Perpetuierung des Helden in seiner männlichen Form verbunden sei. Das Schreckbild eines vormodernen und antidemokratischen Heldenbegriffs, der die gegenwärtigen Erziehungs- und Bildungsideale konterkariere, flackerte im Vorfeld der Ausschreibung immer wieder auf.

Sven Tetzlaff, Wie Jugendliche heute Helden sehen


Da Frauen selten, wenn überhaupt jemals, dazu erzogen werden, als Heldin zu leben und zu sterben, ist die Skepsis bei ihnen besonders ausgeprägt. Oft dürfte man deshalb auf Heldinnen stoßen, die sich selbst gar nicht als Heldinnen sehen. Was nicht bedeutet, dass kleine Mädchen keine Heldinnenphantasien entwickelten! Die bleibende Beliebtheit der unwiderstehlichen Pippi Langstrumpf spricht eine eigene Sprache. Welches Mädchen hat sich nicht nach der gewitzt-anarchisch-übermenschlichen Unbesiegbarkeit Pippi Langstrumpfs gesehnt? Als Kind ahnt man allerdings noch nicht, dass man es mit einer höchst raffinierten Variante des Typus Kriegerin-Rächerin zu tun hat, einer gar nicht so harmlosen Nachfahrin also der rasenden Amazone Penthesilea und einer Vorfahrin der melonenbusigen Pixelheldin Lara Croft.

Ina Hartwig, Heldinnenkarussell


Gewiss, Entrepreneure sind Wohlstandsgenerateure. Das allein, meint die amerikanische Pädagogin Candace Allen in dem Essay The Entrepreneur as Hero mache sie schon zu Helden: "Sie sind mindestens so sehr Helden wie jene Wesen des Mythos, welche Drachen getötet und das Böse bekämpft haben." Und doch bleibt das Heroische des Unternehmers naiv, solange man ihn nur als den Eroberer und Händler wahrnimmt. Dann ist er immer der einfältige Drachentöter, ein tumber Held, dem die Welt nichts anhaben kann, weil er wie durch ein Wunder unverwundbar geworden ist. Doch das Risiko, dem der Unternehmer sich aussetzt - dabei ganz und gar verwundbar und verletzlich -, bezieht sich längst nicht nur auf die Unsicherheit, ob der Markt seine Geschäftsidee auch annimmt. Es wird in noch viel stärkerem Maße beeinflusst von den flüchtigen Sicherheiten der Finanzierung seiner Geschäfte. Joseph Schumpeter wusste das. "Sein erstes Bedürfnis ist das Kreditbedürfnis", schreibt der österreichische Ökonom über den Unternehmer. Im Jahr 1911, vier Jahre nach Sombarts großem Essay, veröffentlicht Schumpeter sein Frühwerk Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Darin beschreibt er die Rolle des Geldes und der Kreditwirtschaft im kapitalistischen System. Um nämlich überhaupt irgendetwas produzieren zu können und seine Ideen - für Schumpeter sind es "neue Kombinationen" - durchsetzen zu können, muss der Unternehmer investieren. Dafür braucht er als allererstes einen Kredit. Gäbe es den Kredit nicht, blieben alle schöpferischen Erfindungen idealistische Kopfgeburten, die nie ihre Märkte erreichen würden, es sei denn der Kapitalist wäre schon von Geburt aus vermögend und wollte es durch sein Geschäft nicht erst werden.

Rainer Hank, Die Gefallenen oder Wirtschaftshelden sehen anders aus


Das Leben lebt seiner Natur nach egoistisch. Jedes Lebewesen ist sich selbst das Nächste. Nennen wir es Lebenswillen oder wie auch immer: Leben muss mehr von seiner Umwelt nehmen, als es letztlich wieder zurückgibt. Leben lebt fern vom Gleichgewicht mit seiner Umwelt. Stellt sich das Gleichgewicht ein, kommt der Tod. Die Selbstbezogenheit des Lebens bestimmt, was die Organismen tun oder was sie sich leisten können und was nicht. Das Bestmögliche für sich selbst anzustreben ist kein unsozialer Egoismus, sondern schiere Notwendigkeit für das Überleben und Weiterleben. Daher sollte es allemal besser sein, unnötige Gefährdungen zu vermeiden, als heldenhaft zu scheitern oder gar seine heroische Tat nicht zu überleben. Im Heldenhaften und in seiner Steigerungsform, dem Heroischen, äußert sich somit die Problematik des Uneigennützigen. Wie und warum ist der Altruismus in der Lage, den ganz natürlichen Egoismus zu unterdrücken? Warum kann er sogar seine reinste Form, den Überlebenswillen, überwinden? Das sind keineswegs allein philosophische, sondern durchaus auch biologische Fragen. Sie stellen uns vor ein evolutionsbiologisches Problem: Überwindet der Mensch mit dem Heroischen seine Natur? Handelt es sich dabei um ein rein soziales Phänomen, das sich nur aus der menschlichen Gesellschaft heraus verstehen lässt und keinerlei biologische Wurzeln hat? Was treibt dabei den Menschen an, der Heroisches leistet? Ein neuartiges inneres Bedürfnis oder die Gesellschaft selbst, in der er lebt?

Josef H. Reichholf, Zur Soziobiologie des Heroischen


Ohne Kampf und ohne Einsatz des Lebens kein Heldentum. Heldentum bedarf keiner Gemeinschaft; doch keine Gemeinschaft kommt ohne Heldentum aus. Gemeinschaften bewähren sich nur, wenn eine ausreichende Quote von opferbereiten Menschen für die Werte der Gemeinschaft eintritt und im Ernstfall das Äußerste gibt. Daher die außergewöhnliche Wichtigkeit, nach siegreichen politischen Umstürzen einzelne Gefallene mit politischer Totenehrung auszuzeichnen. Jede neue Ordnung ist teuer erkauft; ihren hohen Preis gilt es regelmäßig bewusst zu machen in kommemorativen Ritualen, welche die Neugründung der Gemeinschaft oder ihre Bewahrung in höchster Not beschwören. Diese Gefallenen müssen keine Sieger sein; ihr Heldentum bemisst sich am Einsatz für die Gemeinschaft. Vorbehaltlose Hingabe ist ein kulturgeschichtliches Faktum ersten Ranges, wie Jacob Burckhardt uns klargemacht hat. Er hat die Quote der opferbereiten Menschen zum Maßstab erhoben, um die Größe einer Epoche zu messen. Nichts ist richtiger. Ganz anders jene Helden, die nicht für eine Gemeinschaft kämpfen. Diese Einzelgänger - Theseus, Herakles, Achill, Siegfried, Parzival, Lancelot - leisten ihre Taten um ihres Ruhmes willen; nehmen sie an Kriegen teil, dann betrachten sie diese als Feld der individuellen Bewährung, ja sie lösen den Krieg in lauter Duelle auf. Freilich müssen sie siegen, andernfalls ist ihr Kampf wertlos. Solches Heldentum benötigt eigentlich keine Gemeinschaft, sondern ein Publikum, welches die Taten bezeugt, rühmt, besingt und die Kunde davon weitergibt, räumlich und zeitlich. Solche Helden benötigen die anderen Menschen als Resonanzkasten ihrer Taten. Sie müssen siegen, andernfalls sind sie keine Helden.

Egon Flaig, Symbolischer Tausch und heldischer Tod


Helden bieten uns Alternativen zur Resignation. Sie beweisen, dass die unserem Leben auferlegten Begrenzungen in Frage gestellt werden können, dass wir nicht jedes Element der Systeme, in die wir hineingeboren wurden, hinnehmen müssen. Aber müssen wir nicht die Natur des Menschen akzeptieren, wie sie ist? "Wir wissen nicht, was unsere Natur uns zu sein erlaubt", schrieb Rousseau. Aber auch wenn man ihm glaubte, ist doch Wissen nicht dasselbe wie Überzeugung. Man spürt vielleicht, dass die Grenzen seines Stammes oder seiner Stadt nicht die Grenzen des Möglichen sind. Aber solange man nicht erlebt, dass jemand sie tatsächlich überwindet, fällt es einem schwer zu glauben, dass dies einem selber möglich wäre. Deshalb gibt es alle möglichen Helden: Sportler, Bergsteiger und bestimmte Rockstars bieten alle die Verheißung eines erfüllteren und intensiver gelebten Lebens als desjenigen, mit dem wir uns angeblich abfinden sollen. Wahre Helden können ihre Taten nicht auf eine Arena beschränken. Sie kämpfen im Krieg, leben ihre Liebe und schaffen Gerechtigkeit mit dem gleichen Einsatz und Geschick. Wie Odysseus machen sie ihre Sache nicht immer gut. Helden unterscheiden zwischen theoretischen und realen Möglichkeiten und beweisen zweifelsfrei, dass es nicht nur Wunschdenken ist, was einen wünschen lässt, lebendiger zu sein. Aber wenn Helden eine Inspiration darstellen, sind sie doch auch eine Herausforderung, und zwar eine, die wir oft lieber vergessen. Zu wissen, dass einige Menschen mehr aus ihrem Leben gemacht haben als wir, kann uns unerwünscht sein. Das gilt besonders dann, wenn der betreffende Held anders als der zwiespältige Odysseus ein moralischer Held ist. Sie haben vielleicht nie den Wunsch verspürt, den Mount Everest zu besteigen, aber Sie möchten sich doch für jemanden halten, der einem Tyrannen die Stirn bieten würde, wenn es denn sein müsste. Und da niemand von uns je wissen wird, ob wir in den extremsten der Extremfälle tun könnten, was wir tun sollten, kann die Vorstellung von denjenigen, die um ihrer Ideale willen ihr Leben aufs Spiel setzten, zuweilen so bedrohlich sein, dass wir sie lieber tot sehen.

Susan Neiman, Wenn Odysseus ein Held sein soll, dann können wir es auch sein


Homer hat mit Achill und Odysseus, den zentralen Figuren seiner beiden Epen, zwei Helden in die Literatur eingeführt, die einem gesunden Moralempfinden Schwierigkeiten bereiten. Achill und Odysseus sind strahlende Urbilder des Heldentums, der eine, weil er Taten durch außergewöhnliche körperliche Kräfte, der andere durch außergewöhnliche geistige Fähigkeiten vollbringt. Aber Homer hat zugleich beide mit charakteristischen Eigenschaften ausgestattet, denen nicht nur der gute Bürger, sondern auch führende Moraltheoretiker wenig Verständnis entgegenbringen. Odysseus lügt, er ist ein Meister der Lüge, der seine Ziele nicht mit offenem Visier, sondern mit List und Täuschung erreicht. Achill hasst die Lüge, aber er ist zu schnell entflammtem, heftigem Zorn mit den schrecklichsten Folgen fähig. Dieser Zorn ist das Thema der Ilias, er bestimmt Achills Handeln nicht beiläufig, sondern wesentlich.

Arbogast Schmitt, Achill - ein Held?


Wie die Terroristen des deutschen Herbstes projiziert er das Weltbild einer fernen Vergangenheit auf seine Gegenwart; wie die Terroristen identifiziert Don Quijote unter seinen Zeitgenossen andauernd Schuldige, die bestraft werden müssen, und zu befreiende Opfer, ohne dass Schuldigen und Opfern gemeinhin solche Rollenzuschreibungen einsichtig wären; wie die Terroristen interpretiert er die Welt und handelt im Namen einer radikalen, höheren Gerechtigkeit; wie die Terroristen deutet er jede Widerlegung seiner Projektion um in eine Bestätigung seiner These von der Ideologisierung - in Don Quijotes Fall: von der Verzauberung - der Welt; wie Terroristen schreckt er vor der Anwendung physischer Gewalt oder der Zerstörung der Rechtsordnung keinesfalls zurück, wobei ihn die Absolutheit der hochgehaltenen Werte und die Geringschätzung des eigenen Lebens zu legitimieren scheinen; wie Terroristen sieht er sich von den besten Absichten beseelt und nimmt den Undank der Mitwelt enttäuscht und perplex zur Kenntnis. Nichts charakterisiert den modernen Helden als Terroristen so kompakt wie Ortega y Gassets dem Quijote-Roman abgewonnene Formel von der Wirklichkeit des Willens zum Abenteuer und von der Unwirklichkeit der Welt, auf die sich dieser Wille bezieht. Und selbst für Don Quijotes Rückkehr in sein Dorf als Alonso Quijano der Gute gibt es eine Terrorismusentsprechung: Das ist die Begnadigung jener Terroristen, deren revolutionärer Wille nach vielen Jahren Haft gebrochen scheint, und ihre Belohnung durch die Zuweisung von Stellen, zum Beispiel beim staatlich subventionierten Theater.

Hans Ulrich Gumbrecht, Don Quijote oder der moderne Held als Terrorist


Seit der schwarzen Romantik suchen literarische Texte dem Leser Figuren des Bösen nahezubringen, indem sie ins Innere ihrer dunklen Gedankenwelten blicken. Die Sehnsucht des Betrügers, das Wissen des Mörders, die Angst des Vergewaltigers werden uns zu authentisch anmutenden, gleichwohl ästhetisch gebrochenen Erfahrungen, an denen wir im Akt der Lektüre teilhaben. Nicht der böse Held ist das Skandalon der Literatur - er existiert schließlich seit der Antike -, sondern die Technik der erzählerischen Introspektion, die uns mit ihm zusammenzwingt. Sehr prägnant lässt sich dieses tückische und zugleich effektive Verfahren an der Ästhetisierung des Teufels im Roman der schwarzen Romantik erkennen.

Peter-André Alt, Der Teufel als Held


An der Oberfläche ist der Dandy eine glatte und abweisende Erscheinung. Er ist eine Figur der Kälte, die die anderen vielleicht berührt oder erstaunt, selbst aber - wie der aristotelische Gott - unbewegt und unberührt bleibt. Alle äußeren modischen und eleganten Zeichen der Kleidung gelten nicht für sich selbst, sie haben auch nicht die Funktion, Geld und Vermögen zur Darstellung zu bringen. Als Kennzeichen von Muße und Luxus, das heißt eines Freiraumes, der über bloße Naturnotwendigkeit hinausgeht, sind sie aber geeignet, eine geistig-spirituelle Dimension des künstlerischen Menschen anzuzeigen, die jenseits aller Zweck- und Nutzenrechnung liegt. Die äußeren Repräsentationszeichen sieht Baudelaire nunmehr als Zeichen einer inneren Größe, die größter Disziplin unterworfen sind. Besteht der disziplinarische Kult auf der einen Seite darin, das Geistige und damit unsichtbare Originalität im gesellschaftlichen Raum in zeremonieller Form zu repräsentieren, so untersteht er auf der anderen Seite dem Imperativ, jede affektunterworfene Bewegung des Körpers zu unterdrücken. Jede Art von Schockerfahrung, die aus dem äußeren Raum kommen könnte, ist damit ausgegrenzt. In radikaler Weise ist der Dandy als derjenige gedacht, der weder stoische "admiratio" noch christliche "misericordia" kennt und sich somit jeder menschlichen Kommunikation entfremdet. Der Dichter liegt jenseits jeden Bildes, das die Gesellschaft von ihm hat. Als Figur absoluter Selbstkontrolle wird er als derjenige vorgestellt, der vor dem eigenen Spiegelbild isst und schläft und damit seine leiblichen Bedürfnisse der ständigen Beobachtung des Bewusstseins unterwirft.

Karin Westerwelle, Der Dandy als Held


Die meisten heutigen Leser von Thomas Carlyles Helden und Heldenverehrung (1841) werden wohl nicht wenig erstaunt sein, wenn ihnen die dort behandelten Dichter und Denker als Helden präsentiert werden. Nun ist "Held" eine der höchsten Formen der Anerkennung, die eine Gesellschaft zu vergeben hat - es sollte deshalb nicht verwundern, dass auch diejenigen, die ungeachtet aller sonstigen Verdienste darauf keinen Anspruch erheben können, die Kategorie für sich und ihre Kollegen in Anspruch zu nehmen versuchen: Dichter, Denker und bildende Künstler zum Beispiel. Wie ist es ihnen gelungen, zumindest zeitweilig diese Form der Anerkennung zu ergattern, die doch in so deutlichem Gegensatz zu ihrem Handeln zu stehen scheint? Der Held ist, was er ist, durch sein Handeln. Heldisches Handeln ist dadurch charakterisiert, dass es um eines höheren Gutes willen ein für die individuelle Existenz des Helden Wesentliches aufs Spiel setzt: sein Leben, sein Wohlergehen, seine Liebe. Das künstlerische und gar denkerische Handeln aber ist wesentlich risikolos, innerlich, zerebral, allenfalls handwerklich in seiner Materialität. Entwürfe, Pläne, Skizzen künstlerischer oder philosophischer Werke können als Werke eigenen Rechts angesehen und anerkannt werden, Entwürfe und Pläne heldischen Handelns gelten zu Recht für wenig oder nichts, sind schlimmstenfalls Maulheldentum. Das paradigmatische heldische Handeln ist der Kampf, unmetaphorisch: der gewaltsame Versuch, den Gegner zu töten, und dabei das Risiko eingehen, selber getötet zu werden. "Was ist ein Kampf, an dem der Körper nicht beteiligt ist?" Dichten und Denken als Tätigkeiten sind in diesem Sinne risikofrei; die auf diesem Schlachtfeld davongetragenen Wunden sind allenfalls Hämorrhoiden, Rückenschmerzen und nervöse Schlafstörungen. Es gilt also, die Arbeit des Künstlers und Denkers zu einem dem Helden vergleichbaren Handeln umzugestalten - und zwar generell, unabhängig von ihrem spezifischen Inhalt und ihrer besonderen Form.

Siegfried Kohlhammer, Der Hammer redet


Erstaunlich oft bleiben Brechts Helden Dissidenten, Einzelgänger, Außenseiter, entwetzende Hofnarren. Manche von ihnen werden dafür getadelt, gestraft, ermordet. Anzunehmen, dass dies jedesmal die einfache Meinung des Gedicht- und Stückeschreibers sei, könnte so voreilig sein wie ihr Gegenteil. Vielleicht muss man sich wirklich einreihen in die Arbeiter-Einheitsfront, wenn man selbst ein Arbeiter ist; vielleicht tut man auch klug daran, sich in die Büsche zu schlagen wie Sokrates, das Weite zu suchen wie Horaz, allein ins Offene zu gehen wie Laotse ins Gebirge. Die Ambivalenzen werden von Brechts marxistischer Wendung an bis in die späten Texte hinein in unendlichen Schattierungen und Variationen wiederholt, zuweilen dialektisch durchgespielt, häufiger aber unaufgelöst stehengelassen. Die Theodizeefrage, die der sterbenskranke Heine im Lazarus formulierte, läuft auf einen knappen und harten Vers hinaus, der sich in seinem Gedicht auf nichts mehr reimt: "Aber ist das eine Antwort?" Brechts weltliche Version dieser Frage richtet sich an die eigenen geschichtsphilosophischen Prämissen, und sie bleibt so reimlos und antwortlos wie Heines Vers. Erst wenn ihm die Antworten ausgegangen sind, lässt Brecht den Vorhang fallen, und da sind dann die Fragen wieder, was sie uns als Schülern nie zu sein schienen: offen.

Heinrich Detering, Das Entwetzen des Hofnarren


Für die Musik als eine Kunst, die von Beginn an mit einer sakralen Aura umgeben ist, hält die griechische Antike ihren eigenen Archetypus als Helden bereit: den Thraker Orpheus. Als Sohn der Muse Kalliope und des (ihm angedichteten) Vaters Apoll inkarniert er die Macht der Musik, gilt als ihr mythischer Erfinder. Wie David steht er als frühester begnadeter Sänger, der sich mit der Leier begleitet, für die beinahe magische Einheit von Wort und Ton. Orpheus eignet wie David die Dimension des Prophetischen. In einem Mosaik der Synagoge in Gaza (509 nach Christus) sind beide in einer Figur vereint. Sie sind Stifter und Künder: Der eine ist Vater des Lieds, der andere der der Psalmen, die kultische Funktionen haben. Dennoch ist beider Bild vorab das von jugendlichen Heroen: Als Künstler-Helden leisten sie, dank ihres Muts und ihrer Fähigkeiten und geschützt von einem Gott, Übermenschliches für ihre Gemeinschaft; die lohnt es ihnen, indem sie sie ins Zeitlose überhöht. Auch dies ist ein Triumph des Gesangs über den Tod. Orpheus begleitet die Argonauten auf ihrer Fahrt über das Meer und bewahrt sie vor dem sicheren Untergang, indem er schöner singt als die Sirenen. Eine zaubergleiche, ungeheure Wirkung geht aus von seiner Musik. Ihre besänftigende Kraft beschwichtigt wilde Menschen ebenso wie wilde Tiere, die Natur verneigt sich vor ihm, befreit sich von ihren Konflikten. Selbst die Monstren der Unterwelt vermag sie sanft zu überwältigen, und so gelingt es ihm, seine Gattin Eurydike aus dem Hades zu befreien. Adornos Satz "Alle Oper ist Orpheus" (ausgenommen das Wagnersche Musikdrama) weist darauf hin, dass Monteverdi mit seinem Orfeo aus dem Jahr 1607 den Archetypus einer neuen Form schuf, der Oper. Erstmals in der Geschichte der Mythologie wurde die Macht der Musik auch mit den Mitteln der Musik dargestellt; die über Gluck laufende Reihe, die selbst durch den parodistischen Seitensprung Jacques Offenbachs nicht unterbrochen wurde, ist lang. Weg und Gestalt des Sängers - als sich selbst singender Held - können, je nach Konstellation, ein gutes oder schlimmes Ende finden.

Albrecht Betz, Musikhelden und Heldenmusik


Der Held ist maßgeblich bestimmt durch die Größe des Gegners sowie die Hartnäckigkeit seines Engagements, die er gegen den Widerstand aufbietet. Er ist nicht zwingend definiert durch Sieg oder glücklichen Ausgang eines Konflikts, allenfalls durch seinen Willen und die Leidenschaft zur Tat. Er kann verlustreich gewinnen, wie er ungebeugt unterliegen kann, er ist Held, weil er handelt - auch dann, wenn jede vermeintlich rationale Zielkalkulation ihm Unrecht gibt. Das sichtbar zu machen liegt durchaus im Darstellungshorizont der Pose. Es scheint, als hätte sich spätestens seit der Auffindung der antiken Laokoongruppe eine erhöhte Sensibilität für den Triumph des Unterliegens entwickelt, nicht zuletzt bei Michelangelo, der maßgeblich bei der Bewertung und Beratung über die Aufstellung und Wiederherstellung der Gruppe beteiligt war. Was immer die Motive für diese neue Wertschätzung waren, die Aufgabe bot die Gelegenheit, einen Körper in heftigster Aktion zu zeigen, ohne dabei die pfauenhaften Effekte der Überlegenheit zu riskieren. Nicht nur Michelangelos Werk, vor allem das Jüngste Gericht in der Sixtinischen Kapelle, ist reich an Figuren, die, geschult am Laokoon und am Torso von Belvedere, die bildkünstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten physischen Leidens ausloten, ohne die Unterlegenen in den Staub würdelosen Scheiterns zu treten.

Reinhard Steiner, Heldenposen


Der Zweite Weltkrieg, nochmals fürchterlicher als sein Vorgänger, schuf viele tausend dekorierte "Helden", einen neuen Totenkult - ein neuartiges Erinnern jedoch brachte er nicht hervor. Die Formen, die sich nach 1918 so spontan und eigengesetzlich gebildet hatten, mussten genügen. Mehr noch, selbst die Sowjetunion, die die Toten des Zarenreichs in den Abgrund der Geschichte verbannt hatte, übernahm nun das Gedenken an den Unbekannten Soldaten und errichtete ein entsprechendes Grabmal an der Kremlmauer, dem geheiligten Ort für Bestattungen von Sowjetführern. Doch es dauerte immerhin bis 1967, dem fünfzigsten Jahrestag der Revolution, dass das Grabmal zustande kam. Mit seiner Ewigen Flamme macht es beim französischen Vorbild Anleihe. Der in Granit gemeißelte Gedenkspruch lautet "Dein Name ist unbekannt, aber deine Tat ist ewig" - keine Silbe vom "Sieg über den Hitlerfaschismus", der doch der Inhalt des Großen Vaterländischen Krieges gewesen war, sondern eine Sinnstiftung allein aus der Überwindung aller Zeitlichkeit, dem letztendlichen Ziel der Totenrituale aller Kulturen. Warum gab es nach dem Zweiten Weltkrieg kein den Jahren um 1920 vergleichbares Gedenken? Der naheliegende Einwand, durch den Völkermord der Nazis, parallel einhergehend mit den Kriegshandlungen, habe der Krieg eine Dimension erhalten, die das hergebrachte Gedenken an die gefallenen Soldaten unmöglich mache, überzeugt nicht. Anfangs spielte der Mord insbesondere an den europäischen Juden bei weitem nicht die globale Rolle, die ihm in der heutigen Geschichtserinnerung zukommt. Selbst im besiegten Deutschland galt die öffentliche Aufmerksamkeit weit stärker den von den Alliierten eingeleiteten Prozessen gegen NS-Größen und hohe Militärs als dem Völkermord. Es war die Kriegführung selbst, die die Vorstellung jedweden Heldentums aufgelöst hatte. Mit der erbarmungslosen Einbeziehung der Zivilbevölkerung wurde der Unterschied zwischen kämpfender Truppe und "Heimatfront" eingeebnet, und das Heldentum fiel im Luftschutzbunker kaum geringer aus als im Kursker Bogen. 1945 war ein ganzes Volk dermaßen erschöpft, dass die Vorstellung eines Heldenkultes oder gar einer "Dolchstoßlegende" wie nach 1918 vollkommen abwegig gewesen wäre.

Bernhard Schulz, Helden des Todes, Helden des Lebens


Spricht man über das Heroische im amerikanischen Western, dann bezieht man sich nicht auf Realitäten, auch nicht auf abgebildete, sondern auf imaginative Konstrukte, auf Phantasmen. Das ist offensichtlich so. Aber dann ergibt sich, dass theoretisch mehr auf dem Spiel steht: Könnte es sein, dass auch der generelle heroische Diskurs von Imagination vorbestimmt ist - ein Phantasieren über die soziale und moralische Identifikation hinaus und dass dieses Darüberhinaus die eigentliche Bedingung des Sprechens vom Helden ist? Das Darüberhinaus wäre dann nicht die Qualität von physischem und moralischem Mut, nicht der höchste Grad einer noblen Tat, sondern etwas anderes, das eigentlich erst die Attraktivität des sogenannten Heroischen erklärt beziehungsweise lange Zeit erklärte. Eine Qualifikation sollte dann von vornherein ausgeschlossen bleiben: die normative Erwartung. Was wir wissen ist: Helden gab es seit jeher. Aber unsere Wahrnehmung von ihnen ist geprägt von Imagination. Pointiert gesagt: Helden gibt es in Wirklichkeit nur, weil es sie vorher in der Literatur gegeben hat. Ob Achill wirklich gegen Hektor gekämpft hat, ist gleichgültig gegenüber der Gewissheit, dass der junge Alexander ein Held sein wollte, weil er Homer gelesen hatte. Der Archetypus des Heldischen, so kann man verkürzt sagen, ist seit dem homerischen Paradigma der Zweikampf auf Tod und Leben. Sein Vollzug selbst - als Darstellung männlichen Muts und der daraus entspringenden Ehre - ist wichtiger als andere Motive, sei es die Verteidigung der bedrohten eigenen Gemeinschaft, sei es die Rache für erlittenen Verlust. Entscheidend aber bleibt das Ritual selbst jenseits psychologischer Färbungen, die bei Homer durchaus schon subtil sein können: Hektor weiß vor Beginn des Zweikampfs, dass ihn die Götter verlassen haben, aber er weiß auch, dass er trotz des drohenden Todes gegen Achill kämpfen muss. Dieser in einer archaisch-aristokratischen Kriegerethik begründete Verhaltenskodex, der "kydos", den René Girard charakterisierte, hat seine Wirkung auf den modernen Leser keineswegs verloren. Wir lesen die Schilderung des Zusammentreffens, des Verlaufes und des Endes von Achills und Hektors tödlichem Rencontre zweifellos anders, als es Alexander tat und viele junge Männer bis Ende des Ersten Weltkriegs, die noch immer dem gleichen Kodex folgten, den wir im europäischen Westen nicht zuletzt in Folge der Anonymität des modernen Kriegs als anachronistisch aus der Zivilisationsidee gestrichen haben. Was aber ist es dann, was uns dennoch die homerische Emphatisierung des Duells empfinden lässt?

Karl Heinz Bohrer, Ritus und Geste


Der Held dieses Essays ist der Held des Films The Searchers von John Ford aus dem Jahr 1956. Er ist es von der ersten bis zur letzten Szene. Er wird eingeführt, bevor die Handlung des Films überhaupt beginnt. Der erste Name, der nach dem Signet der Warner Brothers und des Produzenten auf einem nichtssagenden Bildgrund erscheint, ist derjenige seines Darstellers John Wayne. Begleitet wird dieses Versprechen einer extrem herausgehobenen Stellung des Stars, der hier den Helden geben wird, von aufwühlenden Orchesterklängen, komponiert von dem legendären Max Steiner. Erst danach folgt der Titel des Films und der übrige Vorspann, zu dem der sentimentale Westernsong The Searchers von einem gewissen Stan Jones zu hören ist. Als der Vorspann zu Ende ist, wird das Bild für einen kurzen Moment schwarz, worauf das Insert "Texas 1868" eingeblendet wird. Wieder wird das Bild schwarz; der Song erstirbt. Im nächsten Augenblick geschieht dreierlei auf einmal. Man hört das Geräusch einer Türklinke; die bittersüße Titelmelodie des Films setzt ein; und mit dem Aufschwingen einer Tür, in der die Silhouette der Frau erscheint, die sie gerade öffnet, öffnet sich auch die Welt dieses Films.

Martin Seel, Ethan Edwards und einige seiner Verwandten


Auffällig ist, dass das Modell des Helden aus Zufall oder des Helden wider Willen in der Welt des Hollywoodfilms weit verbreitet ist. Irgendjemand stolpert in die Rolle des Helden hinein und wird ihrer schließlich nicht froh. Auch Frank Capras Meet John Doe (1941) und Stephen Frears´ Accidental Hero (1992) bieten hierfür Beispiele. Capras Film, halb Komödie, halb Drama, thematisiert die Spannung zwischen der Figur des Helden und einer demokratischen Gesellschaft. In selbstreflexiver Manier führt das Medium Film vor, in welchem Maße es selbst ebenso wie die anderen Medien diese Figur in Szene setzt und im Verein mit der Politik um egoistischer Motive willen ausbeutet. Es führt aber ebenso vor, wie sehr die Bürger einer demokratisch, kapitalistisch und massentechnologisch organisierten Gesellschaft diese Inszenierung benötigen. Eben weil einerseits jeder sein eigenes Leben und Überleben in dieser Gesellschaft nur auf der Basis des Egoismus sichern kann, andererseits aber Erfahrungen des blinden Vertrauens und der gelingenden Verständigung nicht minder basal sind, kann das Bedürfnis nach dem nichtegoistischen Gelingen so leicht bedient und gelenkt werden. Und Helden sind inszenierte Statthalter dieses Gelingens. Ganz normal sind sie, wenn sie andere aus einer Not erretten, aber nicht aus hehren, sondern kontingenten und letztlich wieder egoistischen Motiven. Da die Massenmedien, also die Massen und die Medien, sie so allerdings nicht wahrhaben wollen, bleibt der egoistische Retter in der Not im Schatten des Scheinwerferlichts, in dem jemand sitzt, der sich in sozialer Absicht zum Retter erklärt hat und als solcher auch glaubwürdig erscheint. Und da die beiden einen arbeitsteiligen Deal eingehen, bekommen am Ende alle, was sie wollen: die Masse ihren Helden, die Massenmedien ihre Story mitsamt dem dazugehörigen finanziellen Umsatz und die beiden Protagonisten eine Wunscherfüllung. Und das alles kann das Massenmedium Film vor Augen führen. Bei Frears, Capra und anderen kommt hinzu, dass sie dem Helden einen zeitgemäßen demokratischen Aspekt verleihen. Wenn es ein intrinsisches Merkmal des Heroismus ist, keine Option zu sein - "Ein Held kann man nur sein, aber niemals sein wollen" (Ralf Konersmann) -, ist in diesen Filmen neu, dass man auch offiziell kein Held mehr sein will und einem klar ist, auf Dauer kein Held sein zu können. Die massendemokratischen Helden wider Willen weisen die überkommene Ehre der Heldenrolle zurück, fühlen sich von der Bürde dieser Rolle überfordert.

Josef Früchtl, Und diesen Unsinn glauben wir


Denn was bei mir bis heute mitschwingt, wenn ich an populärkulturelle Kinohelden denke, das ist Krieg der Sterne. George Lucas´ klassische Star Wars-Trilogie hat mich in der Pubertät voll erwischt und gibt seitdem eine Folie ab, an der sich alle neuen Helden messen lassen müssen. Keineswegs möchte ich behaupten, dass Luke Skywalker mein Lieblingskinoheld ist. Da gibt es Deckart aus Bladerunner, Ellen Ripley aus Alien 1, Woody Allen in seinen vielen Rollen, auch Rick in Casablanca, den Terminator, Kris Kristoffersen in Heaven´s Gate, dann auch einen düsteren Antihelden wie Kapitän Ahab in John Hustons Moby Dick-Verfilmung, und bestimmt fallen mir, wenn ich darüber nachdenke, noch mindestens ein Dutzend Namen mehr ein. Es gibt sogar Phasen, in denen ich Luke lieber gar nicht zum Helden hätte. Die neuen Superhelden-Verfilmungen kann ich viel befreiter, entspannter, lockerer ansehen. Aber bei Luke schwingt etwas anderes, Schwereres mit. Etwas, was manchmal auch mitschwingt, wenn ich die Wörter Heimat oder Herkommen denke. Luke Skywalker ist der Held, der gleichsam immer schon da war und der bislang alle Windungen meines Lebens mitgemacht hat. Ein Stück weit kann ich sogar mein Leben gespiegelt in dieser Hollywoodfigur beschreiben.

Dirk Knipphals, Abschied von der dunklen Seite der Macht


Die Spione, die aus der Popkultur kamen, so lässt sich resümieren, haben als Helden neuen Typs nicht so sehr den Kommunismus bekämpft. Sie haben stattdessen den Kapitalismus definiert. Kulturgeschichtlich macht sie das keineswegs weniger bedeutsam. Schließlich waren es keine Minikameras, Abhörprotokolle, Überläufer oder Strategieinformationen aus dem Arsenal der geheimen Dienste, die den Kalten Krieg am Ende entschieden. Den Sozialismus besiegten vielmehr die hedonistischen Verheißungen des Kapitalismus: Wohlstand, Konsum und grenzenlose Reisefreiheit. Nirgendwo waren diese Verlockungen schillernder präsentiert und plakativer formuliert worden als in der Popkultur, und deren geheimer Agent trägt den Namen Bond. James Bond.

Bodo Mrozek, Im Geheimdienst Seiner Majestät, des Kapitalismus

MERKUR Jahrgang 63, Heft 724, Heft 09/10, September 2009
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Jörg Lau, Norbert Bolz, Hans-Thies Lehmann, Giles MacDonogh, Niels Werber, Ute Frevert, Sven Tetzlaff, Ina Hartwig, Rainer Hank, Josef H. Reichholf, Egon Flaig, Susan Neiman, Arbogast Schmitt, Hans Ulrich Gumbrecht, Peter-André Alt, Karin Westerwelle, Siegfried Kohlhammer, Heinrich Detering, Albrecht Betz, Reinhard Steiner, Bernhard Schulz, Karl Heinz Bohrer, Martin Seel, Josef Früchtl, Dirk Knipphals, Bodo Mrozek, Andy Bleck,


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