Es gibt einen treuherzigen und weitverbreiteten Optimismus, der damit rechnet, bürgergesellschaftliches Engagement entstehe genau dann, wenn die Behörden, Parteien, Anstalten − Einrichtungen, die unser Leben regeln −, ausfallen oder uns auch nur enttäuschen: Aus Vertrauensverlust wächst dann Bürgerstolz, aus gefühlter Not entwickelt sich die Fähigkeit, öffentliche Funktionen durch Eigenleistung zu ersetzen. Leider laufen die Dramen der Unzulänglichkeit so gar nicht nach diesem Muster ab, bürgerlicher Heroismus ist kaum zu beobachten, dafür aber Zorn, Empörung und Verachtung, doch diese Gefühle sind vor dem Hintergrund moderner demokratischer Gemeinwesen ziemlich unbestimmte Energieströme. Die Voraussetzungen, auf denen dieses Gemeinwesen ruht, bilden sich nicht auf verlässliche Weise neu und an anderer Stelle, sobald sie schwinden. Sie sind andererseits auch nicht von vornherein zum Untergang verurteilt, wie eine weitverbreitete Katastrophensehnsucht raunt. Das Staunen über die Brüchigkeit der Normalverhältnisse, über die erbärmliche, manchmal schockierende Seite all der Institutionen, die unser Leben regeln, sucht sich seine Anlässe. Was dann folgt, ist nicht steuerbar, Ausmaß und Folgen sind kaum zu berechnen. Auch bleibt offen, ob das eine am Ende heilende oder nur eine zerstörerische Dynamik freisetzt. Bei allem Vertrauen auf die kühle Vernünftigkeit: Die vergangenen Monate haben den Deutschen ganz erstaunliche Schauspiele im Genre des Institutionenversagens vorgeführt. Ihre Banken erwiesen sich als korrupt und unfähig, eine christlich-liberale Koalition konnte ihr altes Versprechen nicht halten, gleichsam naturwüchsig zur vernünftigen Führung des Staates berufen zu sein, und die Alternative, eine starke Sozialdemokratie, ist schwer angeschlagen. Den tiefsten Einschnitt markiert jedoch die Bestürzung über jene Einrichtungen, denen man seine Kinder anvertraut hatte, über die Schulen und die Kirche. Sexueller Missbrauch und Gewalt an Kindern lösen Traumata in einer alternden Gesellschaft aus, wenn nicht sogar unausgesprochene Existenzängste, und dies umso tiefer, wenn zum Ausgleich der demographischen Verschiebung der Appell zur Integration von Zuwanderern das eigene Selbstverständnis in Zukunft zu einer ziemlich komplexen Angelegenheit zu machen verspricht. Vorläufig möchte die Nation noch bei sich bleiben: Identität stiften heute die Kinder, ihre Belange sind die Leitkultur. Was nichts mit Kinderliebe zu tun haben muss. Blickt man auf die Berichterstattung über die Missbrauchsfälle zurück, dann fällt deren Schonungslosigkeit ins Auge. Die Opfer haben sich alles abverlangt, weit über ihre Schmerz- und Schamgrenzen hinaus. Die beteiligten Institutionen hatten keine Nachsicht zu erwarten, und zwar nicht nur, weil sie zu schwach waren, Verbrechen zu verhindern, sondern weil sie die Täter gewissermaßen in einer Art Nährlösung gehalten hatten. Sie hatten ein duldsames Umfeld, einen günstigen Kontext gebildet. Diese Schuld wirkt am schwersten, denn sie ist vor Gericht nicht zu vergelten.
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