"Viele Missionare haben uns von den religiösen Bräuchen der primitiven Völker berichtet. Es ist sehr bedauerlich, dass kein Zauberer der Papuas im Vélodrome d´Hiver anwesend war, um uns seinerseits von der Zeremonie zu erzählen, die Dr. Grahamdort geleitet hat und die sich Evangelisationskampagne nennt." Mit dieser sarkastischen Bemerkung beginnt das Buch, das Roland Barthes wohl die umfassendste Breitenwirkung beschert hat, die Mythen des Alltags − im französischen Original schlicht Mythologies − aus dem Jahr 1957. Barthes verkürzt hier den traditionell vielschichtigen kultur- beziehungsweise religionswissenschaftlichen Mythenbegriff drastisch, und er tut es bewusst. Mythologie ist für ihn kein Feld wertneutral distanzierter Forschung, sondern ein ideologiekritisches Geschäft. Der Mythos, so Barthes, sei schließlich kein beliebiges Objekt, er sei vielmehr eine "Botschaft", ein "Mitteilungssystem", eine eigenwillige "Weise des Bedeutens", ein sprachliches Verfahren von starker suggestiver Wirkung. Es ist die Aufgabe des Mythologen offenzulegen, worauf diese Wirkung beruht. Nach Barthes hat sie mit dem perfiden Schema der mythischen Erzählung zu tun: Der Mythos präsentiert Geschichte, als wäre sie ein naturhaftes Geschehen und verkauft auf diese Weise das Kontingente als ein Absolutes. Diesen billigen Trug aufzudecken ist das emanzipatorische Anliegen der Mythologies, Billy Graham das erste Exempel. Auf weniger als fünf Seiten wird der Auftritt des Evangelisten-Predigers als besonders haarsträubendes Beispiel dafür präsentiert, wie die Figur des Mythos, durch Grahams theatralen Einsatz effektvoll gesteigert, zu bewusster Manipulation eingesetzt werden kann. Es ist keine Überraschung, dass Roland Barthes seine Aufsatzsammlung ausgerechnet mit einem Text über die suggestive Wirkung eines religiösen Rituals beginnt. Schließlich ist er Mitte der fünfziger Jahre noch strammer Marxist und schon von daher geneigt, in der "Kritik der Religion", so die Marxsche Formulierung, "die Voraussetzung aller Kritik" am heillosen Zustand der Gesellschaft überhaupt zu sehen. Barthes´ entmystifizierende Dekonstruktion von Grahams hysterischer Massenpredigt liegt in der direkten Fluchtlinie des Diktums von der Religion als Opium des Volkes. Überraschend ist allerdings, wie wenig subtil Analyse und Beweisführung im Vergleich zu den anderen Texten des Bandes ausfällt. Erweist sich Barthes dort durchweg als brillanter Diagnostiker und scharfsinniger Hermeneutiker versteckter Zeichen, so begnügt sich der geistig sonst so überaus bewegliche Skeptiker im Fall Graham mit einer polemischen Schnellexekution. Ohne zuvor in semiotischen Tiefenschichten nach Beweismaterial gegraben zu haben, stürzt er sich sogleich wütend auf das naheliegende und am einfachsten zu treffende Ziel: die talmihafte Oberfläche des religiösen Spektakels, das im profanen Ambiente einer Radsporthalle stattfindet, seine "Plattheit" und seinen "Infantilismus". Barthes´ grobschlächtiges Vorgehen verdankt sich nicht etwa mangelnder Tagesform, es hat systematische Gründe. Schon Marx gelangte in der berühmt gewordenen Einleitung seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843, aus der die vielzitierte Formel vom Opiatcharakter des Religiösen stammt, kaum über vulgärmaterialistische Invektiven hinaus, blieb in Sachen Religionskritik also ebenfalls deutlich unter seinem philosophischen Niveau. Im Gegensatz zu Barthes lieferte Marx die Begründung dafür allerdings gleich mit: "Für Deutschland", heißt es im ersten Satz apodiktisch, "ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt". Größere argumentative Anstrengungen erübrigen sich also −mit einem Gegner, der bereits erledigt ist, muss man sich nicht weiter auseinandersetzen.
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