Aus dem Augustheft 2010, Nr. 735 Individuelle kreative Leistung ist unpopulär, stattdessen lobt man lieber "Schwarmintelligenz". Unter anderem eine solche Haltung zeigt eine neuerliche Krise des Individualismus an. Dieser besteht im Glauben an die Gleichheit aller Menschen, an den "polypotent" geborenen Menschen, dessen Entwicklung im Positiven wie im Negativen offen ist, der viel erreicht − oder der versagt. Die aktuelle Krise ist nicht die erste des Individualismus, der Demokratie, der Pluralität und der Diversität, der ganzen sogenannten westlichen Gesellschaft, wie sie sich in den letzten vierhundert Jahren entwickelt hat. Zu den früheren, radikaleren und weit brutaleren zählen Nationalsozialismus und Kommunismus. Aber die aktuelle Antipathie gegen den erfolgreichen Unternehmer, den herausragenden Wissenschaftler und den ungewöhnlichen Künstler ist ihnen doch verwandt. Es ist eine Krise der Gleichheit − aber keine bloß der finanziellen Ungleichheit. So richtig und wichtig Richard Wilkinson und Kate Pickett in Gleichheit ist Glück jüngst Probleme benennen, so gefährlich sind ihre materialistischen Lösungsskizzen. Denn nicht in der Ungleichheit der Einkommen, sondern in der Ungleichbehandlung unterschiedlicher Lebensentwürfe liegt die Ursache für die Spannungen, die wir beobachten; die materielle Ungleichheit ist eine bloße Folge. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung steht das Individuum im emphatischen Sinne. Dass es in seinen Entscheidungen und Vorlieben wirklich einzigartig ist, entpuppt sich als staatsnotwendige Fiktion, nicht weil erst jetzt das Datensammeln im Internet den Einzelnen berechenbar werden lässt. Sondern schon seit John Graunts Erfindung der Statistik und der Demoskopie 1662 und ausdrücklich seit Pierre Bourdieus Analyse des Geschmacks können Zweifel an der statistischen Gleichförmigkeit von Individualität nicht bestehen. Das Individuum ist nicht sonderlich "originär". Der Individualismus fordert vielmehr vom Einzelnen, auf die gleiche Weise wie die anderen anders als sie zu sein. Damit reduziert sich Individualität auf eine kontingente Kombination von Merkmalen, zu welchen Geschlecht, Hautfarbe, Musikvorlieben und Ausbildung zählen. Die Merkmale selbst sind dabei kollektiv. Die neuerliche Krise rührt daher, dass die Gleichheit in der Ungleichheit nicht mehr vorausgesetzt wird. Remigius Bunia, Das eingebildete Individuum Die arabische wissenschaftliche Kultur vom 9. bis 12. Jahrhundert lässt sich mit guten Gründen als eine zweite hellenistische Renaissance bezeichnen, nach jener ersten im Imperium Romanum des 2. Jahrhunderts nach Christus. Die arabischen Autoren kombinierten, was Aristoteles auch schon getan hatte, Klimazonen mit geistigen und moralischen Fähigkeiten. Freilich hatte der Grieche die Hautfarbe ignoriert, wohingegen die islamischen Autoren elaborierte ethnische Charakterologien klimatheoretisch mit der Hautfarbe verbanden. Sie gebrauchten "schwarz" und "rot" und "weiß" als farbliche Merkmale, um ganze Ethnien zu klassifizieren, was, wie Bernard Lewis bemerkte, eine ethnographische Innovation darstellte. Damit schufen sie eine neue "wissenschaftliche" Rassenlehre. Der Hautfarbenrassismus ist eine arabische Erfindung, Lewis hat sie ausgiebig dokumentiert. In der Tat benutzten die arabischen Gelehrten das hellenistische Erbe recht kreativ: Sie beschenkten die Menschheit mit dem Hautfarbenrassismus. Das Weltkulturerbe verdankt der arabischen Kultur eine folgenreiche Errungenschaft, was zu Unrecht vergessen wurde. Egon Flaig, Wie die Hautfarbe zum Rassismus fand Wer sind die überragenden Männer und Frauen der modernen Zivilisation, die Vorbilder, die unserer Hochachtung würdig sind und des Wunsches, ihnen nachzustreben? Das England des 20. Jahrhunderts brachte zwei berühmte und miteinander unvereinbare Antworten auf diese Frage hervor, und wie wir zwischen den beiden wählen, wird weitgehend unser geistiges und moralisches Leben bestimmen. Winston Churchill war eine Gestalt des öffentlichen Lebens par excellence, die politische Arena war sein Element, sein treibender Wunsch bestand darin, das britische Empire in seiner Idealgestalt zu verkörpern und, was für ihn notwendig dazugehörte, sich den gefeierten historischen Persönlichkeiten auf der unvergänglichen Ehrentafel der Geschichte anzuschließen. Wie er mit dem für ihn charakteristischen Sinn für das Komische erklärte, werde er nicht zuletzt deshalb in die Geschichte eingehen, weil er diese Geschichte selber schreiben werde. Und er schrieb tatsächlich ein Buch über jeden Krieg, an dem er teilgenommen hatte, von den Kriegen des Empire gegen wilde Stämme an der nordwestlichen Grenze Indiens und im Sudan bis zum Burenkrieg (wo seine verwegene Flucht aus einem Kriegsgefangenenlager ihn zu einem Nationalhelden machte und seine politische Karriere begründete) und den zwei Weltkriegen (im ersten der beiden diente er in der Regierung und für kurze Zeit in den Schützengräben, im zweiten als der legendäre Premierminister). Neben diesen Werken schrieb er Biographien seines Vaters Randolph Churchill und seines Vorfahren John Churchill, Herzog von Marlborough, sowie eine Geschichte der englischsprachigen Völker. Es wird zuweilen behauptet, dass ihm der Nobelpreis für Literatur nur deshalb verliehen wurde, weil es keinen Nobelpreis für Kriege gab, aber Winston Churchill schrieb tatsächlich zwei der besten Geschichtswerke des 20. Jahrhunderts: The World Crisis und Marlborough. Zählt man die bedeutendsten Männer seiner Zeit auf, so nimmt er einen Rang ganz oben ein; ganz gewiss reicht niemand an seine überragenden Fähigkeiten heran, die sowohl die eines Mannes des Geistes wie auch eines Mannes der Tat waren. Um es mit Churchills Bedeutung und Einfluss aufnehmen zu können, bedurfte es mehr als einer Person − dazu war ganz Bloomsbury nötig, diese glanzvolle Versammlung geistiger und künstlerischer Talente, die bekundeten, die Zivilisation vor Churchill und den kriegerischen Menschen seines Schlages retten zu wollen. John Maynard Keynes, Virginia Woolf (geborene Stephen), Leonard Woolf, E. M. Forster, Lytton Strachey, Roger Fry, Clive Bell und Vanessa Bell (Virginia Woolfs Schwester) waren der Mittelpunkt dieses Zirkels, der aus der Cambridge Conversazione Society entstanden war, der geheimen Versammlung studentischer Hochleistungsgehirne − besser bekannt unter dem Namen The Apostles −, die später ihre Operationsbasis nach Bloomsbury verlegte, dem Londoner Viertel in der Nähe von University College und dem British Museum. Algis Valiunas, Wofür soll man kämpfen? Freitag, 5. Januar, Wyk auf Föhr Wir stehen auf einer Terrasse über der Bismarckstraße, es muss sich um die Deutsche Oper handeln; eine umfangreiche Gesellschaft, die irgendeinem offiziellen Ereignis beigewohnt hat. Heller Sommernachmittag. Plötzlich erhebt sich in unserem Rücken eine Art Ufo, ein Riesending, und segelt durch den blauen Himmel. Es könnte aus Star Wars stammen − oder aus meiner Kindheit, wie ich damals Ufos gebastelt habe, aus Kartons und Plastikdosen. Das Ufo überquert uns und verschwindet in Richtung Wilmersdorf, es hat zu taumeln begonnen und wird gleich abstürzen, wie ich nicht ohne Lust bemerke. Aber da steigt es wieder empor! Und kommt auf uns zu! Was mich so ängstigt, dass ich erwache. Dienstag, 9. Januar, Berlin Doch, sagt der Kunstkritiker fröhlich am Telefon, genau so habe er sich die Wiedervereinigung immer vorgestellt. Die ganze Zeit schon habe er Martin Walser mit seinen Wiedervereinigungsphantasien gegen Freunde und Freundinnen verteidigt. Dass die SED jetzt ihre Leute über "die Gefahr von rechts" zu mobilisieren versuche, sei doch typisch: Wer den Antifaschismus auspackt, will nur seine eigenen Privilegien verteidigen. Antifaschismus wird − bis in die SPD hinein − als ideologische Manövriermasse verwendet; niemand erkenne in den gegenwärtigen Prozessen irgendwo eine faschistische Gefahr. Der deutsche Nationalismus ist tot. Samstag, 13. Januar, a. a. O. Ich habe immer behauptet, dass das Brandenburger Tor zierlich sei − "wie das Weiße Haus" −, aber als wir jetzt hindurchgehen, kommt es mir monumental vor − "das könnte aber auch Die Historische Stunde sein". Es ist mit neuen Graffiti und alten Inschriften beschmiert; zwischen den Säulen gelblich gestrichene Flächen. Auf der anderen Seite, wo mich die beträchtlichen Vorbauten erstaunen, stellen sich immer wieder Leute in das Licht, das das Tor nächtens anstrahlt, um fotografiert zu werden. Später äußert Kathrin Befriedigung, weil ich sie, als wir hindurchgingen, nicht fragte, ob sie weinen möchte. Dabei hatte ich selber mit den Tränen zu kämpfen. Michael Rutschky, Meine deutsche Frage Unter den Schwächen und Halbheiten der Schrumpfungsdebatte steht die Geschichtsblindheit obenan. Zwar bekennt man sich zur europäischen Stadt, zu Markt, Kirche, Kneipe und Tradition, aber die Geschichte des Schrumpfens bespricht man kaum. Immer wieder haben Städte Jahrzehnte ohne Wachstum überstehen, sich nach Pest, Brand, Krieg neu organisieren müssen. Gewiss, damals hegte man meist die Hoffnung auf bessere Zeiten, aber sicher, anstrengungslos gegeben war dies nicht. Eigentlich ist die europäische Stadt so erfolgreich, weil sie Krisen gut vertragen und überwinden kann. Wäre davon nichts zu lernen? Die IBA-Macher haben sich Mühe gegeben, alle Fehler der jüngsten Zeit zu vermeiden. Man setzt nicht primär auf Infrastruktur wie der Aufbau-Ost, man verabscheut "Leuchtturmprojekte", eigentlich große Gesten überhaupt. Man will die Menschen dort abholen, wo sie gerade schrumpfen. Aber die vornehme, graswurzelverliebte Bescheidenheit hat ihre Tücken. Das Straßennetz, Plätze, Wege, alles, was zur Infrastruktur gehört, sind für eine Stadt wichtiger als die meisten Einzelgebäude. Klarheit des Wegenetzes, der Straßenführung wäre zuerst herzustellen. Wichtiger als jedes Bürgerzusammentreffen sind deutliche Grenzen. Abgrenzung gegenüber der Brache. In schwachen, schrumpfenden Städten schwinden die klaren Unterscheidungen, wandern die Grenzen ins Zentrum. Zuletzt aber gilt, dass man in Krisen und nach Katastrophen Städte gleichsam neu gründen muss. Nicht um den Bürgersinn der Einwohner zu wecken, nicht um ein Ereignis fürs Marketing zu erzeugen, sondern um der schrumpfenden Stadt einen neuen Maßstab zu geben. Wie das aussehen könnte, hätte man gern auf der IBA erfahren − stattdessen aber dominieren in den offiziellen Darstellungen viel sozialpädagogischer Fleiß, gefühlte Soziologie und Architektenroutine. Die gesamte Schrumpfungsdebatte ist ein illegitimes Kind der kritischen Rekonstruktion. Sie betont gern ihre Einmaligkeit, aber diese Experimente leben von einem Stadtideal, das Vergangenheit ist. Jens Bisky, Architekturkolumne Um der allgemeinen Verwirrung und Kakophonie der Debatten um "Identität" entgegenzutreten und zugleich eine eigene theoretische Perspektive zur Problematik der Selbstgewissheit und Selbstfragmentierung des modernen Individuums (oder besser: des Individuums in der heutigen Moderne) zu entwickeln, hat der französische Soziologe Jean- Claude Kaufmann in den letzten Jahren drei überaus interessante und aufschlussreiche Bücher vorgelegt. Zwei davon sind auch in deutscher Übersetzung erschienen. Lediglich Ego. Pour une sociologie de l´individu (2001) ist nur im französischen Original zugänglich; allerdings werden die Grundlinien und die zentralen Argumente dieser ersten Untersuchung auch in den beiden neueren Arbeiten wieder aufgenommen und weitergeführt. Kaufmann ist der deutschen Öffentlichkeit − der soziologischen Fachwelt, verstärkt aber auch dem anspruchsvollen Sachbuchpublikum − vor allem als Paarsoziologe und scharfsinniger Analytiker der Geschlechterverhältnisse bekannt. 1994 erschien Schmutzige Wäsche, eine brillante Studie, die die diversen Stufen und Verwicklungen der Paarbildung, die Entwicklung synchroner Routinen im Prozess der Haushaltsintegration, exemplarisch am Schicksal und dem Umgang mit der Wäsche, etwa den Versteifungen beim Bügeln oder Streitigkeiten um die Waschtemperatur, nachzeichnet und analysiert. Danach erschienen in rascher Folge eine Untersuchung über das Oben-ohne am Strand (Frauenkörper − Männerblicke, 1996), eine Theorie der Hausarbeit (Mit Leib und Seele, 1999), Singlefrau und Märchenprinz. Über die Einsamkeit moderner Frauen (2002) und Am Morgen danach. Wie eine Liebesgeschichte beginnt (2004), außerdem eine Soziologie des Kochens und des Essens (Kochende Leidenschaft, 2006) sowie eine weitere Studie über den Ärger in Paarbeziehungen (Was sich liebt, das nervt sich, 2008). Nimmt man hinzu, dass der Autor neben seiner Professur an der Sorbonne sich auch journalistisch regelmäßig als Kommentator in Le Monde, Nouvel Observateur und Liberation zu Wort meldet, so ergibt sich der Eindruck einer intellektuellen Starkstromproduktivität, wie sie allerdings bei großen französischen Soziologen und Theoretikern (man denke etwa an Pierre Bourdieu und Michel Foucault) nicht so unüblich ist. Rainer Paris, Das zersplitterte Ich "Viele Missionare haben uns von den religiösen Bräuchen der primitiven Völker berichtet. Es ist sehr bedauerlich, dass kein Zauberer der Papuas im Vélodrome d´Hiver anwesend war, um uns seinerseits von der Zeremonie zu erzählen, die Dr. Grahamdort geleitet hat und die sich Evangelisationskampagne nennt." Mit dieser sarkastischen Bemerkung beginnt das Buch, das Roland Barthes wohl die umfassendste Breitenwirkung beschert hat, die Mythen des Alltags − im französischen Original schlicht Mythologies − aus dem Jahr 1957. Barthes verkürzt hier den traditionell vielschichtigen kultur- beziehungsweise religionswissenschaftlichen Mythenbegriff drastisch, und er tut es bewusst. Mythologie ist für ihn kein Feld wertneutral distanzierter Forschung, sondern ein ideologiekritisches Geschäft. Der Mythos, so Barthes, sei schließlich kein beliebiges Objekt, er sei vielmehr eine "Botschaft", ein "Mitteilungssystem", eine eigenwillige "Weise des Bedeutens", ein sprachliches Verfahren von starker suggestiver Wirkung. Es ist die Aufgabe des Mythologen offenzulegen, worauf diese Wirkung beruht. Nach Barthes hat sie mit dem perfiden Schema der mythischen Erzählung zu tun: Der Mythos präsentiert Geschichte, als wäre sie ein naturhaftes Geschehen und verkauft auf diese Weise das Kontingente als ein Absolutes. Diesen billigen Trug aufzudecken ist das emanzipatorische Anliegen der Mythologies, Billy Graham das erste Exempel. Auf weniger als fünf Seiten wird der Auftritt des Evangelisten-Predigers als besonders haarsträubendes Beispiel dafür präsentiert, wie die Figur des Mythos, durch Grahams theatralen Einsatz effektvoll gesteigert, zu bewusster Manipulation eingesetzt werden kann. Es ist keine Überraschung, dass Roland Barthes seine Aufsatzsammlung ausgerechnet mit einem Text über die suggestive Wirkung eines religiösen Rituals beginnt. Schließlich ist er Mitte der fünfziger Jahre noch strammer Marxist und schon von daher geneigt, in der "Kritik der Religion", so die Marxsche Formulierung, "die Voraussetzung aller Kritik" am heillosen Zustand der Gesellschaft überhaupt zu sehen. Barthes´ entmystifizierende Dekonstruktion von Grahams hysterischer Massenpredigt liegt in der direkten Fluchtlinie des Diktums von der Religion als Opium des Volkes. Überraschend ist allerdings, wie wenig subtil Analyse und Beweisführung im Vergleich zu den anderen Texten des Bandes ausfällt. Erweist sich Barthes dort durchweg als brillanter Diagnostiker und scharfsinniger Hermeneutiker versteckter Zeichen, so begnügt sich der geistig sonst so überaus bewegliche Skeptiker im Fall Graham mit einer polemischen Schnellexekution. Ohne zuvor in semiotischen Tiefenschichten nach Beweismaterial gegraben zu haben, stürzt er sich sogleich wütend auf das naheliegende und am einfachsten zu treffende Ziel: die talmihafte Oberfläche des religiösen Spektakels, das im profanen Ambiente einer Radsporthalle stattfindet, seine "Plattheit" und seinen "Infantilismus". Barthes´ grobschlächtiges Vorgehen verdankt sich nicht etwa mangelnder Tagesform, es hat systematische Gründe. Schon Marx gelangte in der berühmt gewordenen Einleitung seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843, aus der die vielzitierte Formel vom Opiatcharakter des Religiösen stammt, kaum über vulgärmaterialistische Invektiven hinaus, blieb in Sachen Religionskritik also ebenfalls deutlich unter seinem philosophischen Niveau. Im Gegensatz zu Barthes lieferte Marx die Begründung dafür allerdings gleich mit: "Für Deutschland", heißt es im ersten Satz apodiktisch, "ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt". Größere argumentative Anstrengungen erübrigen sich also −mit einem Gegner, der bereits erledigt ist, muss man sich nicht weiter auseinandersetzen. Christian Demand, Säkularisierung als Mythos Es gibt einen treuherzigen und weitverbreiteten Optimismus, der damit rechnet, bürgergesellschaftliches Engagement entstehe genau dann, wenn die Behörden, Parteien, Anstalten − Einrichtungen, die unser Leben regeln −, ausfallen oder uns auch nur enttäuschen: Aus Vertrauensverlust wächst dann Bürgerstolz, aus gefühlter Not entwickelt sich die Fähigkeit, öffentliche Funktionen durch Eigenleistung zu ersetzen. Leider laufen die Dramen der Unzulänglichkeit so gar nicht nach diesem Muster ab, bürgerlicher Heroismus ist kaum zu beobachten, dafür aber Zorn, Empörung und Verachtung, doch diese Gefühle sind vor dem Hintergrund moderner demokratischer Gemeinwesen ziemlich unbestimmte Energieströme. Die Voraussetzungen, auf denen dieses Gemeinwesen ruht, bilden sich nicht auf verlässliche Weise neu und an anderer Stelle, sobald sie schwinden. Sie sind andererseits auch nicht von vornherein zum Untergang verurteilt, wie eine weitverbreitete Katastrophensehnsucht raunt. Das Staunen über die Brüchigkeit der Normalverhältnisse, über die erbärmliche, manchmal schockierende Seite all der Institutionen, die unser Leben regeln, sucht sich seine Anlässe. Was dann folgt, ist nicht steuerbar, Ausmaß und Folgen sind kaum zu berechnen. Auch bleibt offen, ob das eine am Ende heilende oder nur eine zerstörerische Dynamik freisetzt. Bei allem Vertrauen auf die kühle Vernünftigkeit: Die vergangenen Monate haben den Deutschen ganz erstaunliche Schauspiele im Genre des Institutionenversagens vorgeführt. Ihre Banken erwiesen sich als korrupt und unfähig, eine christlich-liberale Koalition konnte ihr altes Versprechen nicht halten, gleichsam naturwüchsig zur vernünftigen Führung des Staates berufen zu sein, und die Alternative, eine starke Sozialdemokratie, ist schwer angeschlagen. Den tiefsten Einschnitt markiert jedoch die Bestürzung über jene Einrichtungen, denen man seine Kinder anvertraut hatte, über die Schulen und die Kirche. Sexueller Missbrauch und Gewalt an Kindern lösen Traumata in einer alternden Gesellschaft aus, wenn nicht sogar unausgesprochene Existenzängste, und dies umso tiefer, wenn zum Ausgleich der demographischen Verschiebung der Appell zur Integration von Zuwanderern das eigene Selbstverständnis in Zukunft zu einer ziemlich komplexen Angelegenheit zu machen verspricht. Vorläufig möchte die Nation noch bei sich bleiben: Identität stiften heute die Kinder, ihre Belange sind die Leitkultur. Was nichts mit Kinderliebe zu tun haben muss. Blickt man auf die Berichterstattung über die Missbrauchsfälle zurück, dann fällt deren Schonungslosigkeit ins Auge. Die Opfer haben sich alles abverlangt, weit über ihre Schmerz- und Schamgrenzen hinaus. Die beteiligten Institutionen hatten keine Nachsicht zu erwarten, und zwar nicht nur, weil sie zu schwach waren, Verbrechen zu verhindern, sondern weil sie die Täter gewissermaßen in einer Art Nährlösung gehalten hatten. Sie hatten ein duldsames Umfeld, einen günstigen Kontext gebildet. Diese Schuld wirkt am schwersten, denn sie ist vor Gericht nicht zu vergelten. Thomas E. Schmidt, Das Dilemma des gerechten Zorns Vergleichen wir ein Auto und einen Fluss. Die mechanischen Bewegungsgesetze gestatten mir, unter gegebenen Bedingungen mit ziemlich hoher Gewissheit vorauszusagen, dass das Auto mit einem Hindernis kollidiert und welches Schadensrisiko daraus entsteht. Auf dieser Basis lassen sich dann technische Vorsorgemaßnahmen treffen: Wir können das Auto mit einem Automaten ausstatten, der eine Vollbremsung einleitet, sobald eine bestimmte Geschwindigkeitsschwelle überschritten wird. Solche Probleme, bei denen man in der Regel eine klar definierte und erreichbare Lösung erwarten kann, nennt man in der Entscheidungstheorie "zahm". Technische Probleme, auch wenn sie kompliziert sind wie das Sicherheitssystem eines Kernreaktors, sind meist "zahme" Probleme. Schwieriger wird die Situation beim Fluss. Ob er zu einem bestimmten Zeitpunkt über seine Ufer tritt und Menschen und Sachwerte gefährdet, ist eine Frage, die meist an eine viel größere Zahl von Bedingungen gekoppelt ist als beim Auto. Vor allem dann, wenn man den Fluss in ein größeres ökologisches Szenario einbettet. Man treibt so die Zahl der möglichen Ursachen, aus denen er sein Bett verlassen kann, hoch − bis ins Unübersehbare. Solche Probleme sind "tückisch" ("wicked problems"). Die meisten großen Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, sind von dieser Sorte: Umwelt, Armut, Ernährung, Bevölkerungswachstum, Städtebau, Finanzsysteme. Sie beginnen schon mit der Definition des Problems selbst. Eine gemeinsame Diagnose des Klimaproblems scheint offensichtlich sehr schwer, das hat nicht zuletzt der Klimagipfel in Kopenhagen gezeigt: Das Klima ist kein "zahmes" physikalisch-statistisches Problem, sondern ein "tückisches" wissenschaftlich-politisch-sozial-kulturelles Problemknäuel, das in der Regel noch moralisch umnebelt wird. Eduard Kaeser, Tückische Probleme muss man nicht lösen, man muss mit ihnen leben Als wir 1984 zum ersten Mal verhungernde Kinder in Afrika sahen, waren alle empört. Aber irgendwann hat man genug verhungernde Kinder gesehen, und die Bilder gehen einem nicht mehr so unter die Haut. Der Klimawandel ist jetzt die aufregende Neuigkeit. Denken Sie daran, wie wir auf die Erdbebenkatastrophe in Haiti reagiert haben. Das Land befand sich auch davor schon in einem desolaten Zustand, aber es bedurfte einer Katastrophe, damit wir ihm Beachtung schenkten. Denken Sie daran, wie wir uns 2004 im Fall des Tsunami verhielten, bei dem etwa dreihunderttausend Menschen umkamen. Das ist eine schrecklich hohe Zahl von Toten, aber es ist ungefähr dieselbe Zahl von Menschen, die alle zwei Monate in Südostasien an Infektionskrankheiten sterben. Diese Toten sehen wir nicht! Der Klimawandel bietet einfach viel stärkere Bilder, er erfreut sich einer viel besseren Öffentlichkeitsarbeit, und er beunruhigt uns erheblich mehr, weil diese Bilder eine faszinierende Geschichte erzählen. In dieser Geschichte kommt sogar der Weltuntergang vor, und sie gibt uns Gelegenheit, uns zu so ziemlich allem zu äußern. Wenn wir einen sehr warmen Winter haben, dann heißt es: "Sehen Sie, das ist der Klimawandel." Und wenn es einen sehr kalten Winter gibt, dann soll der Klimawandel auch dafür verantwortlich sein. Der Klimawandel hat all die Eigenschaften, die nötig sind, um sexy zu sein; er verkauft sich gut in den Medien, und ein jeder von uns kann sich bei dem Thema ein bisschen schuldig fühlen. Aber künftige Generationen werden uns danach beurteilen, ob wir bis zum Ende dieses Jahrhunderts eine bessere oder eine schlechtere Welt geschaffen haben, und der entscheidende Punkt ist der, dass wir mit all dem Geld, das wir im Kampf gegen den Klimawandel ausgeben, der Welt sehr viel mehr helfen könnten, wenn wir uns auf die Bereiche konzentrierten, wo dieses Geld gut angelegt wäre. Bjørn Lomborg / Joel Malan, Es gibt klügere Strategien
Zahlungsmethoden
PayPal (nicht Abos),
Kreditkarte,
Rechnung
weitere Infos
Versandkostenfreie Lieferung
nach D, A, CH
in D, A, CH inkl. MwSt.
weitere Infos