Zitate aus dem Maiheft 2016, Nr. 804
Das Territorium, das wir Renaissance nennen, ist eine dichterische Schöpfung. Es existiert auch, weil Michelet es durch Neuerfindung überhaupt erst erschlossen hat. Seine Existenz lässt sich nicht bestreiten. Nur selten gelingt es der Geschichte, sich – als Literatur – unverwundbar zu machen. Und wenn es so weit kommt, kann die Geschichte als engagierte Wissenschaft nichts mehr dagegen ausrichten. An der Tatsache, dass Michelet die Renaissance in einer Weise aus der Taufe hob, die noch heute Gültigkeit beansprucht, lässt sich nicht rütteln. Nicht einmal über die Begrifflichkeit, derer er sich bediente, um die Renaissance zum Leben zu erwecken, können wir uns ohne Weiteres hinwegsetzen.
Patrick Boucheron, Was die Geschichte vermag
Nun fremdeln die Philosophen
bekanntlich mit der Empirie, während die Historiker es nicht so mit dem Geist
haben; es mag daher manches Kommunikationsproblem erklären, dass es in Siegen
um einen Grenzfall des Empirischen ging. Zur Debatte standen ja nicht
Heideggers Rektorat, seine NSDAP-Mitgliedschaft oder die Beziehungen zu
jüdischen Schülern und Kollegen, sondern Texte eines Philosophen: Sätze, die
zwischen der Machtübernahme Hitlers und der Gründung der Bundesrepublik
entstanden, sich ausdrücklich auf den Nationalsozialismus beziehen und zugleich
Werkcharakter haben. Als was aber nimmt man solche Sätze? Als Ausdruck von Ideen
oder als sprachliche Äußerungen? Der Unterschied ist gravierend.
Per Leo, Über Nationalsozialismus sprechen
Abhängigkeit wird immer
dann erträglicher, wenn sie wechselseitig ist statt einseitig, temporär statt
endlos, umkehrbar statt festgeschrieben, begrenzt statt umfassend. So heißen
die Attribute, die man dem vielgestaltigen Ungetüm an- beziehungsweise
abdressieren muss. Die Dompteure, die es zu solchen Pirouetten abzurichten
haben, werden die Abhängigen aller Art selber sein müssen. Wer sonst hätte ein
wirkliches Interesse daran?
Andreas Dorschel, Abhängige: von Gnaden einer Person, von Gnaden einer Sache
Da der
Deutsche Bundestag das Jubiläum als »Ereignis von Weltrang« eingestuft hat,
wird der 31. Oktober 2017 ein bundesweiter Feiertag sein – obwohl die
Reformatoren die Heiligenfesttage mit ihrem »Müßiggang« abgeschafft, den
innerweltlichen Beruf des Christen zum wahren Gottesdienst erklärt und
überhaupt das Arbeiten religiös hochgeschätzt hatten. Nun können am
arbeitsfreien Jubeltag auch Katholiken mit jenem Plastik-Luther spielen, der
sich als Playmobil-Figur mit sensationellem Erfolg verkauft hat.
Friedrich Wilhelm Graf, Religionskolumne
Das Drohnenbild bildet in gewisser Weise den Gegenpol zum teilnehmend-involvierten
Typus des Flucht- und Flüchtlingsbilds, das ebenfalls zunächst außerhalb
klassischer Nachrichtenbildproduktionskontexte und -rhetoriken entsteht: also
zum Smartphonebild. Für einige Monate war Letzteres vielleicht sogar die dominante
Bildform der Krisenrepräsentation. Routinemäßig floss es, meist mit dem
pflichtschuldig eingeblendeten Nachweis »Quelle: Youtube«, in die nachrichtenjournalistische
Berichterstattung ein.
Simon Rothöhler, Filmkolumne
1720 scheitern nicht nur die französischen Papiergeldexperimente des John Law
(»Mississippischwindel«), sondern auch die britische South Sea Company, die an
der Londoner Börse eine Spekulationsblase erzeugt hatte. Kollektive Unordnung
also steht auf dem Programm, »man-made apocalypse«, wie die Sheehan und Wahrman
resümieren, und man würde eher Chaostheorien denn Modelle emergierender Ordnung
erwarten. Doch schon kurz nach den Katastrophen von 1720 beginnt sich das
ökonomische System zu stabilisieren. Auf den unerwarteten Zusammenbruch folgt
ebenso unerwartet die Emergenz eines neuen Gleichgewichts.
Till Breyer, Unsichtbare Hand
In ihren schlimmsten Momenten
liest sich die Selbstdarstellung von Enwezors Kunstbiennale wie
Psychopharmakawerbung in einer Ärztezeitschrift. Im japanischen Pavillon hängen
Hunderte Schlüssel von der Decke, an leuchtenden roten Bändern, ein knalliges
Gespinst. Im britischen Pavillon hat Sarah Lucas ihre Arbeiten Jeff-Koonshaft
zu glänzenden gelben Riesensmartiewürsten glattpoliert: Kunst, die ihre eigene
Zweitverwendung als hochauflösende Illustration schon mitdenkt. Kunst, die
sofort überwältigt. Kunst, die ihren eigenen Schlüssel mitliefert. Kunst, die
der Werbung Konkurrenz macht, mit ihrem eigenen Selbstmarketing eins
wird.
Robin Detje, Ein Bericht von drei Reisen zur Kunst
Glaubt man US-Präsident Obama, so sind wir die letzte Generation, die den Klimawandel
noch verhindern könnte. Das ist Zweckoptimismus. Die letzte Generation, die
tatsächlich noch wirksame Maßnahmen hätte ergreifen können, lebte zur Zeit der
Haager Konferenzen. 1904 betrugen die weltweiten Emissionen bereits rund ein
Zehntel der heutigen. Doch im Gegensatz zu heute wäre eine politische Lösung
damals noch möglich gewesen.
Jens Soentgen, Pie in the Sky
Die Ringparabel und Lessings Theaterstück gehen von der inneren Einheit jeder
Konfession aus. Es genügt jedoch eine geringe Kenntnis der Religionsgeschichte
und -gegenwart, um dies als Illusion zu durchschauen. Welche Richtung der
christlichen Kirche soll in das »House of One« einziehen, der Protestant oder
Katholik, die Vertreter der nordamerikanischen oder südamerikanischen Sekten,
die russisch-orthodoxe Kirche oder die Wächter am Turm der letzten Tage? Im
Islam bekämpfen sich seit Beginn Sunniten und Schiiten, danach die Salafisten
und Wahhabiten usw. Welche Richtung unter den Juden zieht in die Synagoge? Und
dann: Wer entscheidet, und nach welchen Kriterien?
Reinhard Brandt, »The House of One« und die drei Offenbarungsreligionen
Das
geht so lange gut, als die Dämme nicht einbrechen, nicht von außen nach innen,
auch nicht, im schlimmsten Falle, gar von innen nach außen, und der Archivar,
wenn er sich als Bibliothekar in der eigenen Kartei verliert und die eigene
Ordnung ihm über den Kopf wächst, bis er nichts Besonderes, auf Kosten von
Anderem ausgewähltes Einzelnes mehr für sammelwürdig hält, sondern alles, weil
es ihm gleich gültig, letztlich somit gleichgültig wird, und jeder Kassenbon
und jeder Zeitungsschnipsel in zwanghaftem Respekt aufbewahrt werden muss, wer
weiß aus evolutionsgeschichtlich vererbtem Instinkt als Vorrat für später, für schlechtere
Zeiten, man weiß es ja nie, (...) alles gebunkert, bis er selber am Ende, der
sammelnde Messie als eingetrocknetes Sammelstück unter anderen aufgefunden
wird, wenn schließlich die Tür, zu der er den Weg sich verstellt hat,
aufgebrochen werden muss, weil er draußen und drinnen keinen Platz mehr zum
Leben fand.
Christiaan L. Hart Nibbrig, Der Sammler und das Seine
Zugegeben leisten in der
Ausschussarbeit Fachpolitiker mit der Hilfe von Lobbyisten, Beamten und
Mitarbeitern oft im fraktionsübergreifenden Konsens bemerkenswerte
Verbesserungen und Korrekturen im Detail eines Gesetzentwurfs. Aber die Arbeit
im Ausschuss tendiert wieder zu Negotiation. Die Negotiation ist so ein
Grundprinzip demokratischer Entscheidungsfindung; dass sie Prozesse in der
Union dominiert, ist kein Anzeichen für einen Mangel an Demokratie. Der nächste
Sprung in der politischen Evolution der Demokratien könnte daher durchaus darin
bestehen, dass Transparenz und Negotiation nicht länger als einander ausschließend
gedacht werden.
Remigius Bunia, Brüssel (V)
Um nun auf das Foto zu sprechen zu kommen, so befinden wir uns hier in der
genauen Mitte zwischen zwei epochalen Großereignissen, wobei das eine eher mit
aufgedonnerten Worten und Kanonen, das andere eher mit platzenden
Kaugummiblasen und Elektrogitarren assoziiert wird. Wie positioniert man sich,
wie legt man die Hände ineinander, wenn das eine vorbei, das andere aber noch
nicht wirklich gekommen ist?
Harry Walter, Knisternde Erotik
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