MERKUR

Heft 03 / März 2013

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Zitate aus dem Märzheft, Nr. 766

Die Lage also ist im Vergleich zu Bubners Aufsatz ungleich komplexer geworden, doch sollte man der ominösen Unbestimmbarkeit des Ästhetischen nicht gar zu bereitwillig aufsitzen, denn insgesamt ist unsere theoretische Situation komfortabler als vor vierzig, ja zwanzig Jahren. Und dennoch: Die gute alte Tante Ästhetik ist zwar sehr in die Breite, nicht aber in die Tiefe gegangen. Sie hätte heute mitzuarbeiten an einem theoretischen Rahmen, der die Komplexisierung unserer Weltbezüge ernsthaft ins Auge fasst, anstatt eifersüchtig über angestammte Hoheitsgebiete zu wachen.

Ingo Meyer, Notizen zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik

 

Die Bundeskanzlerin absorbiert Irritation. Das wissen die Bürger zu schätzen. Was Verantwortung und Empathie gegenüber den europäischen Verlierern anbelangt, die ihren Anspruch auf Hilfe trotzdem hörbar vortragen, gelingt es ihr erfolgreich, kollektive Verdrängung zu organisieren. Es ist Krise und doch keine, es herrscht Aufregung und doch Stille. Jacques Rancière hielt diese Gleichzeitigkeit von hoher sozialer, diskursiver und emotionaler Dynamik bei festgefügten gesellschaftlichen Verhältnissen für das Charakeristikum eines Zustandes, den er »Postdemokratie« nannte.

Thomas E. Schmidt, Die Platzhalterin

 

Die Dissidenten erliegen der in ihrem Erfahrungszusammenhang nur zu verständlichen Versuchung, alles Politische a priori als verwerflich anzusehen. Indem sie diese Erfahrung verallgemeinern und zur Basis ihres Verständnisses von Politik machen, verstellen sie sich den Zugang zu jener republikanischen Tradition des politischen Denkens, die ihren eigenen Erfahrungen in den demokratischen Revolutionen viel angemessener ist und deren Kerngehalt darin besteht, dass Freiheit und Politik nicht Gegensätze sind, sondern zusammengehören. Stattdessen setzen sie die Abwertung des Politischen, die die Geschichte des abendländischen Denkens an so vielen Stellen beherrscht, nahtlos fort.

Helmut König, Lob der Dissidenz

 

Die Enttäuschung über die ernüchternde, nie wirklich zu schließende Kluft zwischen dem ambitionierten publizistischen Selbstanspruch und dem von Kompromissen geprägten Redaktionsalltag begleitet den Briefwechsel wie ein dumpfer Basso continuo über die Jahre: »Wir sind uns einig über das Versagen der Zeitschrift«, heißt es 1960 in einem Brief von Moras, der zur Erklärung noch immer die gleichen Gründe bemüht wie ein Jahrzehnt zuvor. Dabei mag auf beiden Seiten ein gehöriges Maß an selbstverordnetem Leidenszwang im Spiel gewesen sein – wer sich die eigene Aufgabe programmatisch derart mit Superlativen erschwert, für den gehört das Stöhnen schließlich zum Geschäft.

Christian Demand/Ekkehard Knörer, Krisenhaftes aus der Frühzeit des Merkur

 

Was aber kann ich über Bücher sagen, deren Autoren ich gut kenne, mit denen ich vielleicht sogar befreundet bin? Bin ich da nicht immer befangen? Ehrlichkeit könnte die Freundschaft kosten, nichts zu sagen ist aber auch nicht besser. Und leider kann ich nicht gut lügen. Vielleicht sollte jeder Autor es machen, wie Thomas Mann es angeblich gehandhabt hat, immer sogleich schreiben: Danke, habe Ihr neues Buch erhalten, sehr vielversprechend. Und dann loben. Immer loben. Übertrieben loben. Wie aber hieß es deshalb seinerzeit über tatsächlich gute Bücher? »Noch nicht von Thomas Mann gelobt!«

David Wagner, Sich enteseln. Literaturkolumne

 

Innovation auf dem Gebiet des Schulbaus fand sich eher in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden, wo der Raum oft als »dritter Pädagoge« bezeichnet wird. Die Formulierung stammt ursprünglich vom Gründer der »Reggio-Pädagogik«, dem Italiener Loris Malaguzzi, der unter den beiden anderen Pädagogen an erster Stelle die Mitschüler und an zweiter die Lehrer verstand. Als Teil dieses Dreiecks kann der Raum Begegnungen fördern oder behindern, wobei es nicht nur um funktionale Aspekte geht, sondern auch um Atmosphäre und Ambition. Um ihre Aufgabe zu erfüllen, müssen Schulen »schön« sein, nicht im ästhetischen Sinn als »schönes Bild«, sondern im Sinn eines »schönen Tags«, an den man sich gern zurückerinnert.

Christian Kühn, Cluster und Lernstraße ... Architekturkolumne

 

Beide, Deb und Boo, erwecken die Szenen, die sie schildern, anschaulich zum Leben. Dabei offenbaren sie gegensätzliche Persönlichkeiten. Deb macht sich zwar Gedanken über Armut und Ungleichheit – besonders wenn er die Notlage der Bauern und das Leben städtischer Fabrikarbeiter beschreibt –, hat aber auch ein Gefühl für Komik, und mit der Darstellung einer Verbrecherkartei selbsterfundener Betrüger, die die neuerdings so flexibel und mobil gewordene indische Szenerie bevölkern, übertrifft er sich selbst.

Martha Nussbaum, Wie über Armut schreiben?

 

Ausgangspunkt von und Arbeitshypothese für Wolfs Untersuchung ist die starke literatursoziologische These Bourdieus aus den Regeln der Kunst : »Die Struktur des Werks, die eine strikt immanente Lektüre offenlegt, das heißt die Struktur des sozialen Raums, in dem sich die Abenteuer Frédérics abspielen, erweist sich auch als die Struktur des sozialen Raums, in dem der Autor des Werks selbst situiert war.« Das gilt es, auch für Ulrich und Musil zu zeigen.

Hans-Peter Müller, Bourdieu und Musil in Kakanien

 

Die Kunst der gesuchten Analogie wird in Payback ausführlich zelebriert, denn mit ihrer Hilfe lässt sich dezent der ungeheure Bildungsschatz andeuten, über den der Autor verfügt; ihr Wert für die Erkenntnis ist allerdings gering. Der »Schachtürke« des Wolfgang von Kempelen war ein mechanischer Schachspielautomat, der quietschte und ratterte und stockte und aus dessen Innerem man das Pumpen hydraulischer Maschinen hörte. Wozu man allerdings prophetische Ohren brauchte, da es solche Maschinen im Jahr 1770, als der Schachtürke zum ersten Mal auftrat, noch nicht gab.

Joachim Rohloff, Wenn Frank Schirrmacher einen Bestseller schreibt

 

W. Martin Lüdke hat einen Prozess angestrengt, der ihn mit unwiderstehlicher Macht in den Besitz der Zeitschrift Merkur bringen wird, ich habe keine Ahnung, was wir noch gegen ihn mobilisieren könnten. Die Sitzungen finden im Freien statt, vor dem U-Bahnhof Hallerstraße in Hamburg-Rothenbaum, ein helles Winterlicht, sogar Sonnenschein. Eben erklärt eine junge Frau als Zeugin oder als Schöffin, sie sei – als Mitglied der Redaktion? – viel zu sehr Punk gewesen, um der Generallinie der Zeitschrift zu entsprechen ...

Michael Rutschky, Aus dem Tagebuch 1993

 

Die richtige Erkenntnis, dass Theaterkritik nicht »gerecht« und nie objektiv sein kann, verstand Tucholsky als Freibrief für alles Mögliche. Auch fürs Erfinden. Eine seiner seltenen Theaterkritiken, die anfängt, wie eine Theaterkritik anfangen soll – ist eine Fälschung, erfunden von A bis Z. Und wieder eine Liebeserklärung: diesmal an den Schauspieler Max Pallenberg. Eine gefälschte Kritik über ein fiktives Stück – und das erste, das in Tucholskys Augen seinem »Einzigen« gewachsen war.

Ruth Fühner, Kurt Tucholsky als Theaterkritiker

 

Als am 22. Juni, eine Woche nach dem Vorschlag der englisch-französischen Union, der französisch-deutsche Waffenstillstand unterzeichnet wurde, gab es für die Regierung Churchill zwei Möglichkeiten. Entweder sie verließ sich auf die französische Selbstverpflichtung, unter keinen Umständen die Flotte an Deutschland auszuliefern. Das erforderte angesichts der Asymmetrie des deutschfranzösischen Machtverhältnisses einigen Optimismus. Oder sie nahm die Sache selber in die Hand. Churchill entschied sich für Letzteres.

Wolfgang Schivelbusch, Ein Europaprojekt 1940

 

Mit einem Plop öffnet sich ein Fenster. Ein alter Mann in einem roten Jogginganzug sitzt in etwas Dunklem, Kellerverließähnlichem und winkt mir eventuell zu, vielleicht handelt es sich bei seiner Armbewegung aber auch um ein unkoordiniertes Hilfezeichen. Ich erkenne in einem kleineren Fenster mein eigenes, erschrockenes Gesicht. Erster Gedanke: Ich sehe beschissen aus. Zweiter Gedanke: Mein Vater wurde von atheistischen Fanatikern entführt und wird in einem Bostoner Keller mit Internetzugang gefangengehalten.

Stephan Herczeg, Journal (I)


MERKUR Jahrgang 67, Heft 766, Heft 03, März 2013
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Ingo Meyer, Thomas E. Schmidt, Helmut König, Christian Demand, Ekkehard Knörer, David Wagner, Christian Kühn, Martha Nussbaum, Hans-Peter Müller, Joachim Rohloff, Michael Rutschky, Ruth Fühner, Wolfgang Schivelbusch, Stephan Herczeg,


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