MERKUR

Heft 02 / Februar 2011

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Aus dem Februarheft 2011, Nr. 741 Lassen sich tatsächlich irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen diesen Kriegern und dem finnischen Gymnasiasten, der in seiner Schule Amok läuft, feststellen? Willie, dem degagierten Guerillero, und dem Gymnasiasten Berger, den der Vater eben aus der französischen Fremdenlegion losgeeist hatte, damit er doch noch das Abitur ablege, und der sich aufatmend mit neunzehn in den Ersten Weltkrieg stürzt; Gelowicz und den anderen versprengten Kriegern gegen die Ungläubigen? Was insgesamt imponiert, das ist die Ziellosigkeit dieser Kriegshandlungen, dass kein hoher Sinn sich einstellen will, sie zu erfüllen − sogar bei Berger, der immerhin seinem Vaterland als Soldat aufopferungsvoll dient, fehlt dieser Sinn durchaus. Dafür finden sich in seinem Kriegstagebuch prägnante Schilderungen des Lebensgefühls, das den Krieger antreibt und ihm all diese Nahaufnahmen in einer paradoxen Form des Selbstgenusses unter Todesgefahr zusammenfügt. "Unvergesslich sind solche Augenblicke auf nächtlicher Schleiche. Auge und Ohr sind bis zum äußersten gespannt, das näher kommende Rauschen der fremden Füße im hohen Grase nimmt eine merkwürdige, unheildrohende Stärke an, − es füllt einen fast ganz aus. Der Atem geht stoßweise; man muss sich anstrengen, sein keuchendes Wehen zu dämpfen. Mit kleinem, metallischem Knacks springt die Sicherung der Pistole zurück; ein Ton, der wie ein Messer durch die Nerven geht. Die Zähne knirschen auf der Zündschnur der Handgranate. Der Zusammenprall wird kurz und mörderisch sein. Man zittert unter zwei gewaltigen Gefühlen: der gesteigerten Aufregung des Jägers und der Angst des Wildes. Man ist eine Welt für sich, vollgesogen von der dunklen und der entsetzlichen Stimmung, die über dem wüsten Gelände lastet." Man möchte diesen Typus Krieger zu einer Variante des Ästheten erklären; zugleich eignet diesem Lebensgefühl ein religiöses Moment, das Rudolf Ottos berühmte Phänomenologie des Heiligen als "tremendum" beschreibt. Von der Welt, in welcher die pragmatische Formel gilt, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, entfernt diese Krieger ihr Lebensgefühl unermesslich. Für sie ist der Krieg kein Mittel, er ist der Zweck. Michael Rutschky, Krieger Im Grundmuster der patriarchalen Souveränität, die Sterben "macht" und Leben "lässt", stehen der Typus des Henkers und des Soldaten, der "ministres de la mort" (de Maistre), an zentraler Stelle. Durch staatlich sanktionierte Blutopfer, durch politische Rituale öffentlicher Hinrichtungen und entfesselter Kriegsgewalt repräsentieren sie die Ordnung der souveränen Macht, wobei sie deren unordentliche, heterogene Entstehung durchscheinen lassen. Mögen solch zeremonielle Entfesselungen von Gewalt für die Machthaber und Untertanen nur das heilige Gesetz, die Gerechtigkeit des Souveräns ausdrücken, so stellen sie doch an sich den − thanatophilen −Kern der patriarchalen Macht dar. Auf der anderen Seite "lässt" diese aber auch die Möglichkeit eines souveränen Lebens zu: die unerhörte Freiheit kriegerischer Aristokraten vom Schlage Alexanders des Großen oder Cesare Borgias, die politische und militärische Vernunft mit zügelloser dionysischer Ausschweifung, mit selbstverschwenderischem Rausch in Erotik und Kampf zu verbinden wussten. Ganz anders die neue Bio-Macht: Sie lenkt den Fokus politischer Aktivität und Legitimation vom Tod auf das Leben − des gesellschaftlichen Gattungskörpers. Ihn hegt und pflegt und umsorgt nun die Macht, womit sie "Leben macht" und mütterlich, biopolitisch wird. Neben dem Kampf gegen epidemische Infektionskrankheiten, die Wellen des Todes über die Bevölkerung spülten, kommt ein weiteres Operationsfeld der Bio-Macht ins Spiel: Endemien, schleichende Erkrankungen des Gattungskörpers, die dessen Leben nicht wie die Epidemien brutal und massenhaft auslöschen, sondern hinterhältig schwächen, es unentwegt zerfressen, indem sie ihm permanent Energien entziehen (und ökonomische Kosten verursachen) − wie Raucherleiden, Bandscheibenschäden, Fettleibigkeit. So spielt im "Aktionsplan Gesundheit", den das Bundesgesundheitsministerium 2008 vorstellte, ein "Fünf-Punkte-Plan gegen Fettleibigkeit" eine gewichtige Rolle. Öffentliches Rauchen, das lange Zeit ein aristokratisches Prärogativ war und zu den im 19. Jahrhundert erkämpften bürgerlichen Grundfreiheiten zählte, wurde bekanntlich weitgehend verboten. Dietmar Voss, Leben machen und sterben lassen Das Universum entstand aus einer Singularität, aus dem Big Bang. Nach den jüngsten Schätzungen ist es 13,7 Milliarden Jahre alt. In den wenigen hundert Millionen Jahren der prädarwinistischen Zeit auf dem Planeten Erde entwickelte sich das Leben sehr schnell, in den zwei Milliarden Jahren danach veränderten sich die Mikroben nur geringfügig, und es brauchte schließlich noch eine Milliarde Jahre, bis es Menschen gab, die ihre Umwelt durch Technik umgestalteten. Die darwinistische Evolution verläuft langsam, weil sich die einmal herausgebildeten Spezies nur langsam entwickeln und sich im Regelfall eine neue Spezies nur etablieren kann, wenn eine andere ausstirbt. Der ökonomische Wettbewerb ist demgegenüber schneller. Aber deswegen muss er sich noch keineswegs in alle Ewigkeit fortsetzen. Martin Heidegger spricht davon, dass die Technik als Herausforderer die Natur wie einen Gegner stellt. Die Wissenschaften vermessen die Natur, die Technik schließt die Natur auf, sie formt das Erschlossene um und speichert das Ergebnis, um es erneut aufzuschließen. Der Philosoph mit der Hütte ohne Fließwasser, aber mit Stromanschluss im Schwarzwald hat dekretiert, die Technik lasse sich niemals durch den Menschen überwinden. Sonst wäre der Mensch ja Herr des Seins. Steht das entsprechende Know-how zur Verfügung, wird die Technik es wohl dazu benutzen, um in einem ersten Schritt umweglos die Bedürfnisstrukturen zu erzeugen, die für sie am gelegensten sind. Wenn der Mensch genau derjenige ist, den die Technik geplant hat, wird sie innehalten und abwägen. Braucht sie überhaupt noch den Menschen? Gibt es andere, für ihre Zwecke besser geeignete Medien? Benötigt sie überhaupt noch ein Medium? Ist es sinnvoll, dem Menschen ein Statistendasein zuzuweisen, oder sollte er nicht besser ersatzlos abgeschafft werden? Die Politiker der Gegenwart träumen von menschengeleiteter Ökonomie und Technik. Der Mensch hat Angst davor, in der Ökonomie seine Identität restlos zu verlieren. Zugleich befürchtet er, einen durch die Technik verstärkten finalen Fehler zu begehen. Der Mensch kann sich nur vorstellen, dass er sich durch seine Technikverliebtheit selbst besiegt. Das fundamentale Problem sind jedoch weder fehlerhafte Maschinen und schon gar nicht die böswilligen Roboter der Science-Fiction. Zu den Erfolgsprinzipien der Technik gehört, dass sie nicht die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was sie tatsächlich bewirkt. Der Mensch lässt sich vom Farbenspiel des Chamäleons Ökonomie ablenken, das mit sich selbst und mit niemandem sonst kommuniziert, während der Wechselbalg Technik alle Ressourcen der Umwelt des Menschen und schließlich den Menschen selbst verbraucht. Der Mensch muss die Technik als Ganzes und dieses Ganze als planvoll Handelnden denken. Nur so kann der Mensch verhindern, dass möglicherweise er ausgeknipst wird. Ernst-Wilhelm Händler, Das Chamäleon und der Wechselbalg Das dargestellte Böse stellt keinen identifikatorischen Akt her, sondern es provoziert die Phantasie zu einer unendlichen Kette von Vorstellungsbildern: Das Böse wird nicht ästhetisch attraktiv gemacht, sondern es wird imaginativ instrumentalisiert. Selbst eindeutige voyeuristische Lust am Schrecken − die antike Formel hierfür lautet "Schiffsuntergang mit Zuschauern" − meint keinen amoralischen Reizgewinn auf Kosten anderer, sondern die Ekstasis des Vorstellungsvermögens. Die Prominenz von Schlachtdarstellungen in Literatur und Malerei sind ein konventionellerer Beleg dafür. Dasselbe gilt für böse Theaterhelden à la Richard III. oder Eposhelden wie Miltons Satan: Ihr Böses enthält so viel ethisch attraktive Elemente, etwa Mut und Intelligenz, so dass die davon ausgehende Faszination keinem inhaltlich Bösen gilt, sondern abermals der Kapazität, Imaginationen auszulösen. Andererseits ist festzuhalten, dass der Charakter der "Imagination", ausgelöst von bösen Inhalten, nicht mehr jene innere Distanz impliziert, durch die seit Kants ästhetischer "Urteilskraft" grässliche Themen der Kunst rezeptionsästhetisch lizenziert worden sind. Das Reflexionspotential der Imagination und des Imaginären ist also nicht mehr über eine Souveränität des Subjekts und seines Selbstgenusses zu begründen, sondern muss in das böse Thema selbst verlegt werden, das heißt es lässt sich nicht mehr normativ funktionalisieren. Daraus folgt, dass das Imaginäre für unsere Frage wichtiger wird als die Imagination. Im Falle von Littells Roman wiegt das böse Thema so unendlich schwerer, dass es der Einsicht, es handele sich auch um ein imaginatives Verfahren, zweifellos im Wege steht. Nichtsdestotrotz ist dies der Fall. Nur dann, wenn man also die semantische Aktivierung des Bösen nicht als ästhetische Reizproduktion missversteht, sondern als Intensivierung unseres Vorstellungsvermögens, kann man Littells Roman eine Darstellung des Bösen, eine Imagination des Bösen nennen, die insofern ästhetisch ist, als ihr keine pragmatisch-moralische Nutzanwendung, sondern eine phantasmagorische entspringt. Die phantasmagorische Narratio des Romans als Ganzes bestätigt ein solches Urteil. Karl Heinz Bohrer, Der Skandal einer Imagination des Bösen In der dörflichen Welt früherer Jahrhunderte waren alle Menschen mit dem gleichen Ort ein Leben lang verbunden. Sie waren Mitglieder einer in sich abgeschlossenen Lebensgemeinschaft; sie hatten eine gemeinsame Heimat, die gleichen Sitten und Bräuche; sie kannten die gleichen Geschichten, die sich auf den Ort bezogen, in dem sie miteinander lebten. Von ihnen setzten sich die Fremden und die Heimatlosen ab. Heute leben die meisten Menschen nicht mehr in der Abgeschlossenheit eines Dorfes, sondern in einem städtisch geprägten Umfeld. Während ihres Lebens ziehen sehr viele Menschen mehrmals um; sie geben einen bisherigen Wohnort auf und binden sich an einen neuen. Dabei müssen sie jedes Mal überdenken, was ihre Heimat ist. Verlassen sie die eine Heimat und bekommen eine neue? Oder lebt die alte Heimat in ihnen fort? Wie geht man mit Veränderungen in der alten Heimat um, die man nicht mehr miterlebt? Hansjörg Küster, Ökologiekolumne Gibt es heute noch Klassiker der Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft, Autoren der Gegenwart, denen man einen solchen Rang zusprechen möchte? Die beispiellose Expansion der historischen Studien in vielen Ländern bis hin nach Singapur und China, Südafrika und Australien hat zu einem paradoxen Ergebnis geführt. Auf der einen Seite üben mehr Menschen denn je zuvor einen Beruf als Erforscher und Hüter der Vergangenheit aus, werden Bücher über historische Themen in größerer Zahl geschrieben, publiziert und vermutlich auch gelesen als in irgend einer früheren Epoche. Andererseits spielt sich der größte Teil der historischen Forschung abseits der allgemeinen Öffentlichkeit ab. Spezialisten schreiben für kleine Zirkel gleich interessierter Experten, die sich rund um den Globus immerfort auf Tagungen begegnen. Profis sind damit zufrieden, sich in den Augen anderer Profis, ihrer "peers", Ansehen zu erwerben. Bücher sind über den Markt nicht mehr finanzierbar, sondern verdanken, besonders ausgeprägt im deutschsprachigen Raum, ihre Existenz einem verzweigten Subventionswesen. Gelegentlich wagt jemand die Ordnung und Zusammenfassung des Verstreuten in einer "Synthese". Solche Werke sind für den akademischen Unterrichtsbetrieb nützlich, mögen im besten Falle den Spezialforschern die eine oder andere Anregung geben und frischen den Kontakt des Faches zum Laienpublikum wieder auf, ohne den jede Geisteswissenschaft von selbstbezogener Betriebsamkeit bedroht wäre. Sie beruhen in aller Regel auf dem Studium von Sekundärliteratur und bergen dabei manches intellektuelle Juwel. Aber sie leben von geborgter Originalität. Daher bringen sie ihren Verfassern zwar die Anerkennung für herkulische Kraftleistungen ein, jedoch selten den Respekt der Fachwelt. Wenn sich der Spezialist abseits seines Hauptgeschäfts auf die Tonlage der Popularisierung einlässt, dann beugt er sich den Reduktionsbedürfnissen der Medien oder passt sich im Lehrbuchformat der visuell aufgelockerten Häppchenästhetik an, die Verlagen und Herausgebern für das Auffassungsvermögen der Absolventen reformierter Studiengänge maximal zumutbar erscheint. Jürgen Osterhammel, Geschichtskolumne Belgien, so erfahren wir aus Frédéric Martels Mainstream, hat sechs Kultusminister, drei auf Bundesebene − für die Frankophonen, die Flämischsprecher und die deutsche Minderheit − und drei für die Region Brüssel (wobei hier der dritte Kultusminister für die zweisprachigen Projekte zuständig ist). Auf der anderen Seite des Atlantik haben die USA nicht einen einzigen Kultusminister, weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Das liegt der Ausgangsfrage Martels in seinem Buch De la culture en Amérique zugrunde: Warum gibt es in Amerika keinen Kultusminister? Martel stellte bei seinen jahrelangen und große Teile der USA erfassenden Untersuchungen fest: "Nirgendwo ein Kultusminister und überall Kultur." Das dürfte nicht nur den Belgiern, sondern auch vielen anderen Europäern paradox erscheinen und auf Skepsis stoßen: Überall Kultur? Aufgrund sehr detaillierter amerikanischer Statistiken kann Martel genaue Angaben über die "kulturellen Aktivitäten" der Amerikaner machen, und im Vergleich zu Europa ergeben sich sehr ähnliche Werte: Zumindest einmal im Jahr gehen 3 Prozent der Amerikaner in die Oper. Das mag gering erscheinen, ist aber mehr als die entsprechende Zahl der Italiener oder Franzosen und ebenso hoch wie in England (Deutschland: 5 Prozent). Dass die Amerikaner öfter Jazzkonzerte oder Musicals besuchen als die Europäer, wird kaum jemanden verwundern, aber wer hätte gedacht, dass sie auch öfter in Konzerte klassischer Musik gehen (12 Prozent) als die Europäer (Engländer und Franzosen 8 Prozent, Italiener 5 Prozent)? Der Theaterbesuch liegt ebenfalls bei 12 Prozent − keineswegs unter den europäischen Zahlen, was auch für den Besuch der Kunstmuse en gilt. 57 Prozent der Amerikaner lesen ein Buch im Jahr (Europa 57,9 Prozent), aber gegen Martels Zukunftspessimismus in dieser Hinsicht sei darauf hingewiesen, dass der Umsatz aller amerikanischen Verlage gleichwohl 30 Milliarden Dollar im Jahr beträgt, mehr als der der Musik- und Filmindustrie. Neben der Hochkultur mit ihren Symphonieorchestern, großen Museen, Tanzgruppen und Theatern kann Amerika auch auf die "Dynamik seiner Avantgarden, der Gegenkultur und der ´alternativen´ Kulturen" verweisen, deren Einfluss sich in vielen Teilen der Welt zeigt. "Warum sind die amerikanischen Künstler so innovativ und so aktiv in der Gegenkultur, und das auch in Colorado, Kansas oder Texas?", fragt Martel. Denn auch was die regionale Verteilung der kulturellen Aktivitäten betrifft, ergeben sich einige Überraschungen: Im Westen der Vereinigten Staaten, "da, wo man es am wenigsten erwartet hätte", werden die Künste am meisten geehrt − in Idaho, Montana, Wyoming ... Siegfried Kohlhammer, Über die Kultur in Amerika und die Kultur, die aller Welt gefällt Seit dem Ende des Kalten Krieges macht die Bundeswehr einen Funktionswandel durch, wie er radikaler kaum ausfallen könnte: von der passiven Bündnisarmee, für die der "Frieden der Ernstfall" war, hin zu einer aktiven Einsatzarmee, für die in weltweiten Missionen immer mehr der Krieg zum Ernstfall wird. Dieser Wandel ist von der politischen Führung bis heute nicht eingeholt worden: Der Militärhistoriker Klaus Naumann spricht deshalb in seiner Studie Einsatz ohne Zeit? von der "Politikbedürftigkeit des Militärischen". Das berührt den wunden Punkt einer politischen Klasse, der es als Zumutung, ja als ein Zuviel an Staat erscheint, über die Anwendung militärischer Gewalt entscheiden zu müssen. Doch verdruckste Ausweichmanöver helfen nicht: Der Krieg bleibt eine Möglichkeit politischen Handelns, die niemand in Dialoge auflöst; und er ist in Sichtweite geraten. Im Rahmen von Nato und Uno kommen auf die Bundeswehr völlig neue Aufgaben zu: humanitäre Intervention zur Verhinderung von Völkermord, Marinepräsenz gegen Piraten oder Schutz Deutschlands vor terroristischen Angriffen. Mit dem herkömmlichen Begriff der Landesverteidigung hat dergleichen kaum noch etwas zu tun. Für welche Ziele aber deutsche Soldaten in den Kampf ziehen sollen, ist weitgehend unklar. Der Rücktritt von Bundespräsident Köhler warf ein Schlaglicht darauf: Seine Bemerkung über freie Handelswege, die militärisch zu sichern im Interesse einer großen Exportnation liegen könne, provozierte große Aufregung. Indes hatte das, was der Bundespräsident im Radiointerview andeutete − die Stabilisierung von Krisenregionen und die Sicherung lebenswichtiger Rohstoffe −, längst Eingang gefunden in eine präventive Strategie der Nato, die Sicherheit neu definierte. "Die herkömmliche Art und Weise, wie Deutschland über sich selbst spricht, wirkt zunehmend irreal", kommentierte Anne Applebaum, Kolumnistin der Washington Post (8. Juni 2010): "Es ist ein sehr starkes Tabu, das deutschen Politikern verbietet, das Militär in irgendeine Verbindung mit der Außenpolitik zu bringen." Amerikaner, so die Journalistin, "erliegen manchmal dem Trugschluss, jeder Konflikt habe eine militärische Lösung. Aber es ist ebenso kurzsichtig, so zu tun, als könne kein Konflikt jemals eine militärische Lösung erfordern − und gefährlich, nicht einmal darüber zu sprechen." Wohin man auch blickt in dieser so gereizten Debatte um Krieg und Frieden: allenthalben Gewissheitsverluste. Nur die "einzige deutsche Friedenspartei", Die Linke, hat es gut: "Deutsche Soldaten raus aus ... Afghanistan!" heißt die Parole. Diese Linke, offensichtlich unbelastet vom militaristischen Erbe der Nationalen Volksarmee, hat ja schon immer gewusst, dass der "Frieden nicht herbei gebombt werden kann"! Was einst, in den achtziger Jahren, zur Hochzeit der Friedensbewegung, Massen auf die Straße brachte, wird heute von kleinen Zirkeln verwaltet. Unterdessen ist das "Nie wieder Krieg!" erst richtig populär geworden, gut Zweidrittel der Deutschen sind für den Rückzug aus Afghanistan. Der "Nie-wieder-Pazifismus" ist ein Lebensgefühl und zehrt von Lehren aus der Nazizeit. Solche sind indes nicht ein für allemal zu ziehen, sondern müssen von jeder Generation geprüft werden. Was Krieg und Frieden anbelangt, ist es Landessitte, das Grundgesetz mit einer konstitutionellen Friedfertigkeit in eins zu setzen: ein Mantra, das ausländische Beobachter mitunter glauben macht, der Pazifismus sei per Verfassung beurkundet. Da ist es nützlich, sich deren Entstehungsgeschichte und die im Laufe der Zeit angelagerten Normschichten genauer anzusehen. Das Verhältnis von Krieg und Verfassung ist nicht so gemütlich, wie manche sich das vorstellen. Horst Meier, Ein Grundgesetz für Pazifisten? Politik ist zunächst prinzipiell nicht zuständig: Dieser Forderung müssen sich Befürworter politischen Handelns erst einmal stellen. Dem Staat bleibt die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass Glücksund Wohlfahrtsvorstellungen verschiedener Menschen nebeneinander bestehen können. Schließlich sind solche Vorstellungen immer auf den Einzelnen und seine Familie bezogen. Niemand hat das Recht, jemanden dazu zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu sein und seine Wohlfahrt zu verbessern − kein Mensch, keine Gruppe, keine demokratisch gewählte Mehrheit, keine Regierung und auch kein Staat. Michael von Prollius, Entpolitisieren als Herausforderung unserer Zeit Die angekündigte Klimaerwärmung hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den wiederkehrenden Weltuntergangsprophezeiungen der Vergangenheit. Wie bei der biblischen Sintflut wurde der Weltuntergang häufig als Strafe für das sündige Leben der Menschen an die Wand gemalt. Die Klimaerwärmung passt in dieses Schema, denn auch sie ist eine Konsequenz des ausschweifenden Konsums in den Industrienationen. Jedoch verfügen die modernen Weltuntergangspropheten über eine neue, mächtige Waffe: die Naturwissenschaften. Wissenschaftliche Prognosen sind immer richtig. Oder etwa nicht? Ein Beispiel einer falschen wissenschaftlichen Prognose sind die unzähligen Veröffentlichungen über das Baumsterben in den achtziger Jahren. Auch die Klimakatastrophe war damals schon ein Thema: Das Titelbild des Spiegel vom 18. August 1986 zeigt einen im Wasser versinkenden Kölner Dom. Der Meeresspiegel steigt tatsächlich. Allerdings sehr langsam. Was ist also Panikmache, was reale Gefahr? Gerd Ganteför, Die Klimaerwärmung – Weltuntergangsphantasie oder echte Bedrohung? Was weiß ein kleines Kind über den Tod? So fragt der Erzähler in dem Gedicht Wir sind sieben des englischen Romantikers William Wordsworth. Die Antwort des kleinen Mädchens, dem der Erzähler begegnet, mag zunächst verblüffen. Auf die Frage, wie viele Geschwister es habe, sagt es: "Seven are we; / And two of us at Conway dwell, / And two are gone to sea. / Two of us in the church-yard lie, / My sister and my brother; / And, in the church-yard cottage, I / Dwell near them with my mother." Ob man denn die zwei Geschwister, die auf dem Kirchhof liegen, zu der Anzahl der noch lebenden Kinder hinzurechnen könne, will der erstaunte Erzähler nun wissen. "Ja Herr", antwortet das Mädchen und führt zur Begründung an, dass es seinen begrabenen Geschwistern täglich einen Besuch abstatte, oft Strümpfe dort stricke, das Abendessen am Grab einnehme und ihnen ein Lied vorsinge. Der Erzähler gibt sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden und fragt hartnäckig nach, doch beide Male antwortet das Mädchen: "we are seven". Was also weiß ein kleines Kind über den Tod? Ohne jeden Zweifel erinnern die Antworten des kleinen Mädchens an das Verhalten vieler Menschen, wenn sie eine nahestehende Person verloren haben: Sie sprechen mit dem Verstorbenen, schließen ihn in ihre Gedanken ein, pflegen und schmücken sein Grab, auch wenn ihre Empfindungen und Handlungen nicht mehr erwidert werden können. Der Erzähler aus dem Gedicht kann ein solches Verhalten nicht nachvollziehen, glaubt er doch zu wissen, dass der Tod eine endgültige Zäsur bedeutet, dass die Verstorbenen vielleicht im Himmel, nicht aber im Diesseits weilen. Wer von den beiden hat nun recht? Erik Zyber, Man stirbt nur zweimal Das Haus der Assel in der Oranienburger Straße 21 sieht aus, als hätte ein Bauer mit Mistforken Heu über die Balkons gehievt und dort vergessen. Nach der Wende setzte der Inhaber zwei Samen Knöterich um das Regenrohr als Ausdruck für eine neue Zeit − alles sollte schöner werden, und die Bewohner freuten sich darüber, wie die Pflanzen wuchsen und das Grau der Fassade bedeckten. Unter Vogelgezwitscher betrete ich das halb im Souterrain liegende Lokal. Manchmal glauben die Gäste, dass die Laute von einem Tonband im Gewächs kommen, dann klatscht der Inhaber in die Hände, und für ein paar Sekunden ist es ganz still, bis das Gezwitscher wieder einsetzt − eine Showeinlage, die immer funktioniert. Erst sind nur Spatzen gekommen, dann Finken; insgesamt schätzt man den Bestand auf sechshundert Vögel. "Eindeutig zu viele", meint der Wirt. Seine Nichte, die im zweiten Stock wohnt, wollte schon einmal eine Katze anschaffen, dann hat sie es doch gelassen, und manchmal sagt ihr Sohn auch: "Lass das Fenster auf, Mama, mit den Vögeln kann ich gut einschlafen." Hans Dieter Schäfer, Erkundungen

MERKUR Jahrgang 65, Heft 741, Heft 02, Februar 2011
broschiert
ISSN: 0026-0096

Autoren in dieser Ausgabe

Michael Rutschky, Dietmar Voss, Ernst-Wilhelm Händler, Karl Heinz Bohrer, Hansjörg Küster, Jürgen Osterhammel, Siegfried Kohlhammer, Horst Meier, Michael von Prollius, Gerd Ganteför, Erik Zyber, Hans Dieter Schäfer,


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